III. ZEITSCHRIFTENSCHAU
AUGUST BRUNNER S. J.
Wunder
Stimmen der Zelt. Herausgreg-eben von Anton Koch S. J., München
Herder- Verlag-, Freiburg i. Br., 73. Jahrgang, 9. Heft, 142. Bd., 194
Der Verfasser, auf dem Boden katholischer Lohre stehend, unternimmt es, die
Stellung der gegenwärtigen Menschheit zum Begriff des Wunders kritisch zu
untersuchen und das Positive herauszustellen, was zu diesem umstrittenen Pro-
blem gesagt werden kann. Er vergleicht zunächst das Verhalten des mittel-
alterlichen und des modernen Mensehen dem Begriff des Wunders gegenüber.
Der heutige Mensch hat nicht mehr die Weltanschauung des Mittelalters. „Wie
das ganze antike und mittelalterliche Denken Ausnahmen im Naturgeschehen
selbstverständlich voraussetzte und sie durch den Augenschein Tag um Tag be-
stätigt, fand, so leben wir heute von der entgegengesetzten Voraussetzung, daß
die stoffliehen Ursachen immer auf die gleiche Weise wirken und daß Aus-
nahmen unmöglich sind."
Was ist ein Wunderl Der Verfasser hätte vielleicht am Anfang seiner Aus-
führungen hierüber eine deutliehe Erklärung zu geben versuchen sollen. Ein
Wunder ist doch wohl ein Geschehnis, das eine Ausnahme der Naturgesetze
darstellt, das mindestens aus den Erfahrungen, die über die Wirkungen der
Naturgesetze gesammelt werden konnten, nicht erklärt werden kann. „Sind
Wunder möglich, so kann es, meint man, keine Naturgesetze mehr geben. Daß
es" — so sagt Brunner — „aber solche gibt, das beweist die ganze Natur-
wissenschaft." Wunder, die man erklären könnte, wären keine Wunder. Dem
it also nur die Wahl zwischen Naturwissenschaft und
ist, so kann
modernen Menschen sc)
Wunderglanben zu ble
zweifelhaft sein."
nach Bn
r der Begriff „Naturgesetze" keineswegs mehr durch eine
solche Exaktheit gekennzeichnet, wie wir bislang anzunehmen gewohnt waren.
Di, paktheu i da h iö ®w ' üb w »rsebftttert * m i r >
gleich Ort, Zeit und Wirkung eines Eloktrons oder eine» andern letzten Teil«
des Stoffes genau feststellen kann. Es bleibt immer eine gewisse Ungenauigkeit".
Man hat daraus schließen wollen, daß hier dem Wunder der Zutritt offenstehe.
Aber sobald das Wunder zu einem zwar ausnahmsweisen aber natürlichen Ge-
schehen würde, wäre es eben kein Wunder mehr.
Das Wunder hat aber gerade zur Voraussetzung, daß es nicht erklärt werden
kann, wenn auch „dem Physiker dabei nicht wohl ist". Die Betrachtungen Brun-
ners, die sich um „metaphysische" Vorgänge im wahrsten Sinn des Wortes
drehen, können deshalb, von seinem Standort aus gesehen, nur bei einem göttlichen
Urheber de3 Wunders enden. „Es gibt kein Naturgesetz, das mit Recht behaupten
würde, Gott könne das Sein des Stoffes nieht unmittelbar so ändern, wie er es
wolle, vorausgesetzt, daß dieser Gott von absoluter Freiheit ist." Ob es einen
solchen Gott gibt, dafür ist nach Brunnor die Naturwissenschaft nicht zuständig.
Die Frage ist rein philosophisch und theologisch.
Aber haben wir damit nicht bei der schon erwähnten Wahl zwischen Natur-
wissenschaft und Wunderglauben uns für den letzteren entschieden? Nach Brun-
ners Ausführungen will es so scheinen. „Denn die Möglichkeit der Wunder ein-
fach leugnen, heißt das Weltgeschehen zu einem notwendigen Ablauf machen, in
den der Mensch mit seiner armseligen und schwachen Freiheit hilflos und ret-
tungslos hineingeworfen ist. so wie gewisse Spielarten der Existentialphilosophie
uns glauben machen wollen. Ein bo ohnmächtiger Gott, ohnmächtiger als der
Mensch, ist kein Gott."
Es ist verständlich, daß der strenggläubige Verfasser eine weitere Möglichkeit
der Einstellung zum Wunder nicht erwähnt hat. E3 ist das Eingeständnis, für
das Wunder eine Erklärung weder in physisehem noch metaphysischem Sinne fin-
den und anerkennen zu können und sich mit dieser schicksalhaften mensch-
lichen Unzulänglichkeit abzufinden. Darin liegt ein© gewisse Ehrfurcht, die Graf
Keyserling in seinem letzten Buche — das „Buch vom Ursprung" — im
letzten Kapitel mit der Überschrift „Das Wunder" so lebendig aufgerufen hat. Wir
finden dort den Satz: „Darum wollen auch nur Ehrfurchtsunfähige auf alle, auch
auf die dümmsten Fragen eine klare Antwort haben", und einen zweiten Satz, der
lautet: „Wie reich ist die Welt jedes Menschen, für welchen es viel Wunder und
Wunderbares gibt, gegenüber der des Nüchternen!"
95 Universitas
1505
MANFRED SCHRÖTER
Von Hegel zu Spengler
Zeitwende. — Monatsschrift, herausgegeben von Fr. I,an
Zeitwende- Verlag, München, 20. Jahrgang, J&ettX» 1948
Unter dem Begriff „UntergangBphilosophie" versteht Schröter jene
sophte, die in Zeiten von Kulturkrisen sich mit der kommenden Erschütterung
vorausschauend befaßt. Er führt zu Beginn seiner Ausführungen typische Bei-
spiele derartiger philosophischer Weltbetrachtung an, die fast prophetisch an-
muten, so besonders die Gedanken, die Heine in seiner Schrift »Zur Geschichte
der Religion und Philosophie in Deutschland" zum Ausdruck gebracht hat. Wenn
man heute diese Heineschen Prophezeiungen liest, so klingen sie fast unglaub-
haft: „Dann wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die
französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erseheinen müßte. . . . Der
Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist
freilieh au oh ein deutscher und kommt etwas langsam herangerollt, aber kommen
wird er, und wenn ihr es einst kraehen hört, wie es noch nie in der Welt-
geschichte gekracht hat, so wißt ihr, der deutsche Donner hat endlieh sein Ziel
Damals, als Heine diese düstere Vorausschau beschrieb, waren kaum irgend-
welche erkennbaren Anzeichen für die kommende Gefahr vorhanden, höchstens
„daß im Spiegel philosophischer Besinnung «ich zu jener Zeit die ersten Wider-
sprüche gegen Hegels Optimismus anzukündigen begannen". Erst langsam wurde
in der Gedankenwelt der deutschen Denker das Heranuahen der gewaltigen Krise,
das Zuendegehen einer Epoche — ein Untergang — fühlbar. Schopenhauer
mit seinem Weltbild der Verneinung, die Metaphysik S o h e 1 1 i ng e , der mate-
rialistische und sozialistische Umdeuter Hegelscher Metaphysik, Karl Marx,
dessen Untergangsthese die besitzende und bürgerliche Klasse trifft, sind einige
jener Künder, die eine völlige Umschichtung der Kulturwelt ahnen ließen. Bald
darauf sieht „der größte Kulturkritiker" dieses Jahrhunderts, Jakob Burok-
hardt, die Gefahr des europäischen Kulturverfalls voraus: Das Nivellement der
Massen, wie er es nennt, und sein notwendiges Korrelat, den Cäsarismus gewalt-
tätiger, machtgieriger Despoten, der fürchterlichen Vereir.f acher.
Ein Schüler Burckhardt» war Nietzsche. Aus ihm spricht nicht mehr nur die
tiefe Resignation seine» Lehrers. Seine Philosophie ist ein ständiger flammender
Protest; ein Auf ruf «regen \ u< ••• - . • ' . « - , die ei kommen, sieht;
* s Kv.1 u b egt s i sei langei nl et Tortur der
„denn die ganze europäische
Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, auf eine Katastrophe loa
die Heraufkunft des .Nihilismus' " (Eingangsworte zu „Der Wille zur Macht").
Als letzten in der Reihe führt Schröter noch Oswald Spengler an, der als
ein Jünger und Fortführer Nietzsches erscheinen könnte, nur daß für ihn die
Katastrophe sich nicht mehr erst nähert, sie steht bereits unmittelbar bevor.
So sieht Schröter im Bewußtsein der Untergangsphilosophie einen deutlich wahr-
zunehmenden Fortschritt „von der Dämmerungserkenntnis Hegels über das Wetter-
leuchten von Heines Vision zu Burckhardt, Nietzsche und Spengler. Burckhardt
trauert, Nietzsche warnt noch, Spengler konstatiert". Schröter geht nun zur Unter-
suchung der Frage über, mit welcher Berechtigung gegen die letzten in der Reihe
der „Untergangsphilosophen", nämlich Nietzsche und Spengler, der Bohwere Vor-
wurf erhoben werde, „mit all ihrer Machtverherrlichung und dem brutalen Recht
rles Stärkeren nun selbst derartige Instinkte aufgepeitscht und damit das Ver-
hängnis mit herauf geführt zu haben". Es ist die gleiche Frage, die Heine einst
aufgeworfen hatte, als er die Sehriften und Gedanken Voltaires, Diderots und
Roussoaus als Vorbereiter der Henker und Schlächter der Terrorzeit von 1792 bö-
dmete („der Gedanke will Tat. das Wort will Fleisch werden"),
aröter kommt zu der sehr richtigen Erkenntnis, daß der innere Zusammenhang
Untergangserkenntnis und wirklichem Untergang „von weit tieferer und
schicksalhafter Art ist", als es der genannte Vorwurf meint, die Schriften Nietz-
sches und Spenglers hätten den Zusammenbruch mit vorbereitet. Es ist für ihn
kein Zweifel möglich, daß das Dritte Reich sich völlig ebenso entfaltet hätte, auch
wenn keine Zeilo Nietzsches oder Spenglers je geschrieben worden wäre. Er lehnt
jede Verurteilung „in Bausch und Bogen" ab und hält es für unwürdig, „an dem
großen deutschen Geisteserbe unserer Vergangenheit irre zu werden und in ihm
die Keime jener späteren Entartung sehen zu wollen".
S o h r ö t e r s Ausführungen sollten von allen denen gelesen werden, die nicht
müde werden, den deutsehen Geist schon des neunzehnten Jahrhunderts für die
Katastrophe des zwanzigsten Jahrhundertß verantworlich zu machen und mit
Worten zu verdammen, die (um einige Worte Schröters zu wählen) überlegene Reife
und Selbständigkeit des Urteils in erheblichem Maße vermissen und die mangelnde
fchauen, 1 erkennen las2ln d6n ' ™ wirklißhe Entwicklung zu über-
1506
RELIGION UND PHILOSOPHIE
35
RUDOLF OTTO
Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen
29.-30. Auflage. VIII, 229 Seiten. Ganzleinen DM 13.50
„Dieses Werk, nun in seiner 30. Auflage erschienen, ist nicht nur im wissen-
schaftsgeschichtlichen Sinne epochemachend gewesen, es ist auch heute noch
von ungebrochener Aktualität." Oberhessische Presse, Marburg
WERNER ELERT
Morphologie des Luthertums
i. Band: Theologie und Weltanschauung des Luthertums, hauptsächlich im 16. und
17. Jahrhundert. Verbesserter Nachdruck der ersten Auflage. XVI, 465 Seiten. 2. Band:
Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums. Verbesserter Nachdruck der ersten
Auflage. XV, 544 Seiten. Beide Bände zusammen in Ganzleinen DM 52.—
„Die bei aller Akribie der Untersuchung doch sehr flüssige Darstellung er-
scheint berufen, weit über den Kreis der Theologen hinaus zu einer Fund-
grube soliden Wissens und klarer Urteile zu werden . . . Der Bau als Ganzes
ist ein Meisterstück." Theologische Literaturzeitung
J.J. BACHOFEN
Der Mythus von Orient und Occidcnt
Eine Metaphysik der Alten Welt. Mit einer Einleitung von Alfred Baeumler
Herausgegeben von Manfred Schröter. Zweite AufUtge. CCXCV, 628 Seiten. Geheftet
DM50.-, Ganzleinen DM 56.-
„Das mit einer lückenlosen Bibliographie schließende, großangelegte Werk
ist eine verlegerische Tat, zumal es sich nur an gereifte Leser wenden j
die der Tiefe der Bachofen'schen Mythen-Deutung zu folgen
fähig sind. Es wird ein Buch der Zukunft sein, denn diese Erkenntnisse be-
ginnen erst langsam fruchtbar zu werden.'*
Badische Neueste Nachrichten, Karlsruhe
HUGO FISCHER
Über die Konvergenz von Wissenschaft und A
VIII, 218 Seiten. Geheftet DM 18.-
RELIGION UNI) PHILOSOPHIE
OSWALD SPENGLER
Der Untergang
des Abendlandes
Herausgegeben von Helmut Wer-
ner. 20.-3&. Tausend. XV, 400
Seiten. Ganzleinen DM 12.80
„Oswald Spenglers .Unter-
gang des Abendlandes' ist
zu einem Schlüssclwerk un-
serer Zeit geworden. Die von
Helmut Werner besorgte
gekürzte Ausgabe in einem
handlichen und preiswerten
Band wendet sich an den
geistig aufgeschlossenen Menschen, ,dem es heute infolge der starken Bean-
spruchung in Beruf und öffentlichem Leben kaum mehr möglich ist, größere
Werke zu studieren, die außerhalb der sich ständig verengenden Fachgebiete
liegen*. Hoffen wir, daß auch Leser der jungen Generation zu dieser billigen
Edition hinfinden werden, denn, gleichgültig wie man zu Spenglers Welt-
und Geschichtsbild stehen mag: es hat den Geist unserer Zeit entscheidend
beeinflußt und ist heute noch aktuell." Bücherschiff
„Wie faszinierend doch auch heute noch die Lektüre gerade der gekürzten
Schrift wirkt! Man kann sich der suggestiven Magic dieses genialen Ver-
einfachers, der die Welt in seine kleine Studierstubc holt, nur schwer ent-
ziehen. Möglich, daß ,Oer Untergang des Abendlandes', dieses in seiner
Niederschrift vom Pathos des Jugendstils nicht freie Buchjunge Leser heute
abstößt. Sie sollten diese Abneigung überwinden, weil sie bei weiterer
Lektüre ein Gedankengebäude von großer Kühnheit erwartet, ein Gebäude,
das um seiner selbst willen bestehen kann und heute, über 40 Jahre nach sei-
ner Konstruktion, des Belegs durch die Wirklichkeit eigentlich schon nicht
mehr bedarf." P. Hühnerfeld in der „Süddeutschen Zeitung", München
RELIGION UND PHILOSOPHIE
37
OSWALD SPENGLER
Der Untergang des Abendlandes Gesumimt&gabe
Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
1. Band: Gestalt und Wirklichkeit. 138.-140. Tausend. XV, 549 Seiten. 2. Band:
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Dritte, vevm&lrrte Auflage. XII, 342 Seiten. Mit einem Bild und einem Faksimile.
Ganzleinen DM 13.50
Gedanken
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Volksausgabe. IS. Tausend. XV, 338 Seiten. Gebunden DM 7.80, Ganzleinen DM 9.-
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38
RELIGION UND PHILOSOPHIE
Aus meiner Kindheit und Jugend-
zeit - Zwischen Wasser und Ur-
wald - Briefe aus Lambarene 1924
~ 1921
Band 60 in der Reihe ..Bücher
Weise weiß Albert Schweit-
zer zu erzählen und zeigt
sich als scharfer Beobachter
und hervorragender
schcnkenner. Die
Wärme und Innigkeit seines
Gemütslebens wird hier
Der vorliegende
unter den Tausenden, der Verehrer
Beachtung finden wird."
Band ist eine preiswerte und
geschmackvolle Ausgabe, die
Albert Schweitzers Anerkennung und
Reutlinger General- Anzeiger
„Wer etwa noch mit einem Achselzucken fragt, „wieso ein Mensch in den
Urwald geht, als ob es bei uns nicht auch genug Elend gäbe', dem geben die
gesammelten Selbstzeugnisse Auskunft. Und noch eins: Von einem er-
füllten Leben zu lesen, erweist sich immer wieder als die einzige Lektüre,
,von der man etwas hat'.'* Münchner Merkur
„Diese schlichten Berichte, in denen die Grundzüge seines Wesens und sei-
nes Werkes sichtbar werden» geben wohl das unmittelbarste und leben-
digste Bild der Persönlichkeit Schweitzers wieder, die in unserer verwor-
renen Zeit bereits zum Symbol der besten menschlichen Werte geworden
ist. Fast schon zu sehr verehrtes, aber weit entrücktes Denkmal. Darum tut
gerade dieses Buch in der ganz einfachen Erzählung der alltäglichen Pro-
bleme und ihrer Bewältigung aus dem Schatz einer unerschöpflichen, aber
ganz unpathetischen Güte so wohl." Düsseldorfer Nachrichten
RELIGION UND PHILOSOPHIE
ALBERT SCHWEITZER
Kultur und Ethik tkMBnmmyßOm
Sonderausgabe mit Einschluß von „Verfall und Wiederaufbau der Kultur". 371 Seiten.
Ganzleinen DM 9.80
„Albert Schweitzer setzt sich hier mit der Tragödie der abendländischen
Weltanschauung auseinander, mit dem Niedergang der Kultur (hauptsäch-
lich) durch das Versagen der Philosophie. Aber er beläßt es nicht bei der
Diagnose. Er bekennt seinen Glauben an die Möglichkeit einer Kultur-
erneuerung, nennt sich selbst einen .schlichten Wegbereiter', der ,den Glau-
ben an eine neue Menschheit als einen Feuerbrand in eine dunkle Zeit hinein-
schleudern 1 will. Ein schlichter Wegbereiter! Es war kein Geringerer als
Albert Einstein, der ausrief: .Endlich ein großer Mensch in diesem tragi-
schen Jahrhundert!' In ,Kultux und Ethik* ist die wegweisende ethische Idee
des »Willens zum Leben* und der »Ehrfurcht vor allem Leben* verankert, die
die gesamte Arbeit Albert Schweitzers beherrscht und die als wichtigste Vor-
aussetzung für die Renaissance der Kultur zu gelten hat. - Auf jeder Seite
spürt man etwas von der »Unruhe einer niemals und nirgends aufhörenden
Verantwortlichkeit'. Albert Schweitzer hat das, was er dachte und lehrte,
immer selbst gelebt. Er ist sich stets treu geblieben." Weser-Kurier, Bremen
Neben diesen Sonderausgaben sind weiterhin die Einzelausgaben lieferbar:
Aus meiner Kindheit und Jugendzeit
13Q.-137. Tausend. 63 Seilen. Mit 2 Tafeln. Englisch broschiert DM 3.50, gebunden
DM4.50
Zwischen Wasser und Urwald
Erlebnisse und Beobachtungen eines Arztes im Urwald Äquatorialafrikas. 203.-213.
Tausend. VIII, 149 Seiten. Mit 16 Abbildungen und einer Karte. Gebunden DM 7.-
Briefe aus Lambarene
1924-1927. IV, 195 Seiten. Mit 14 Abbildungen. Gebunden DM 7.-
Verfall und Wiederaufbau der Kultur (Kulturphilosophie Bd. I)
SO. Tausend. X, 63 Seiten. Ganzleinen DM 6.-
Kultur und Ethik (Kulturphilosophie Band II)
49. Tausend. XXVI, 269 Seiten. Ganzleinen DM 14.-
40
RELIGION UND PHILOSOPHIE
ALBERT SCHWEITZER
Friede oder Atomkrieg
20. Tausend. 47 Seiten. Kartoniert UM 2.50
ALBERT SCHWEITZER
Das Problem des Friedens in der heutigen "Welt
Rede bei der Entgegennahme des Nobel-Friedenspreises in Oslo am 4. November 1954
22. Tausend. 20 Seiten. Englisch broschiert DM 2.50
ALBERT SCHWEITZER
Das Christentum und die "Weltreligionen
40. Tausend. 57 Seiten. Englisch broschiert DM 3.20
ALBERT SCHWEITZER
Goethe
Vier Reden. SO. Tausend der Gesamtauflage. 1 0i Seiten. Englisch broschiert DM4.20
Vom Sinn des Lebens
Ein Gespräch zu fünft. Aus Werk und Eeben Albert Schweitzers gestaltet von Peter Latar.
35. Tausend der Gesamtauflage. 66 Seiten. Englisch broschiert DM 2.80
MARIE WOYTT-SECRETAN
Albert Schweitzer, der Urwalddoktor von Lambarene
24.-27. Tausend der deutschen Ausgabe. 183 Seiten. Mit 28 Abbildungen auf
15 Tafeln. Ganzleinen DM 8.—
CHARLES R. JOY - MELVIN ARNOLD
Bei Albert Schweitzer in Afrika
Ein Text- und Bildbericht. 159 Seiten. Mit 148 Abbildungen. Ganzleinen DM11.80-
GUY BARTH ELEMY
Wie ich Lambarene erlebte
Ein junger Mensch besucht Albert Schweitzer. Ans dem Französischen übertragen von
Marie Woytt-Secretan. O.-ll. Tausend, 100 Seiten. Mit 2 Abbildungen. Englisch
broschiert DM 3.20
JAHRE
DER ENTSCHEIDUNG
ERSTER TEIL
DEUTSCHLAND
UND DIE
WELTGESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG
VON
OSWALD SPENGLER
i Ol. BIS 125. TA US END
C. H. BECK' SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
MÜNCHEN 1933
Copyright 1933 by C. H. Beck'sche Verlag-buchhandlung
< Oskar Beck> München
Im Zwange der Welt
Weben die Nomen
Sie können nichts wenden noch wandeln
Richeu'd Wagner, Siegfried
EINLEITUNG
Niemand konnte die nationale Umwälzung dieses Jahres
beisehnen als ich. Ich habe die schmutzige Revolution von 1918
vom ersten Tage an gehaßt, als den Verrat des minderwertigen Teils
weil er eine Zukunft haben konnte und haben wollte.
Alles, was ich seitdem über Politik schrieb, war gegen die Mächte
gerichtet, die sich auf dem Berg unseres Elends und Unglücks mit
Hilfe unserer Feinde verschanzt hatten, um diese Zukunft unmög-
lich zu machen. Jede Zeile sollte zu ihrem Sturz beitragen und ich
hoffe, daß das der Fall gewesen ist. Irgend etwas mußte kommen,
in irgendeiner Gestalt, um die tiefsten Instinkte unseres Blutes von
diesem Druck zu befreien, wenn wir bei den kommenden Entschei-
dungen des Weltgeschehens mitzureden, mitzuhandeln haben und
nicht nur ihr Opfer sein sollten. Das große Spiel der Weltpolitik
ist nicht zu Ende. Die höchsten Einsätze werden erst gemacht. Es
geht für jedes der lebenden Völker um Größe oder Vernichtung.
Aber die Ereignisse dieses Jahres geben uns die Hoffnung, daß
diese Frage für uns noch nicht entschieden ist, daß wir — wie in
Zeit Bismarcks — irgendwann wieder Subjekt und nicht nur
der Geschichte sein werden. Es sind gewaltige Jahrzehnte, in
denen wir leben, gewaltig — das heißt furchtbar und glücklos.
Größe und Glück sind zweierlei, und die Wahl steht uns nicht offen.
aber es ist vielen möglich, die Bahn ihrer Jahre nach persönlichem
Willen in Größe oder in Kleinheit zu durchschreiten. Indessen, wer
nur Behagen will, verdient es nicht, da zu sein.
Der Handelnde sieht oft nicht weit. Er wird getrieben, ohne das
wirkliche Ziel zu kennen. Er würde vielleicht Widerstand leisten,
wenn er es sähe, denn die Logik des Schicksals hat nie von mensch-
lichen Wünschen Kenntnis genommen. Aber viel häufiger ist es,
daß er in die Irre geht, weil er ein falsches Bild der Dinge um sich
und in sich entwickelt hat. Es ist die große Aufgabe des Geschichts-
ken ners, die Tatsachen seiner Zeit zu verstehen und von ihnen aus
die Zukunft zu ahnen, zu deuten, zu zeichnen, die kommen wird, ob
VIII
EINLEITUNG
warnende, leitende Kritik ist eine Epoche von solcher Bewußtheit
wie die heutige nicht möglich.
Ich werde nicht schelten oder schmeicheln. Ich enthalt« mich jedes
Werturteils über die Dinge, die erst zu entstehen begonnen haben.
Wirklich werten läßt sich ein Ereignis erst, wenn ^ es ferne ^Ver-
Tatsachen geworden sind, also nach Jahrzehnten. Ein reifes Ver-
ständnis Napoleons war nicht vor dem Ende des vorigen Jahrhun-
derts möglich. Über Bismarck können selbst wir noch keine ab-
schließende Meinung haben. Nur Tatsachen stehen fest, Urteile
schwanken und wechseln. Und schließlich: Ein großes Ereignis be-
darf des wertenden Urteils der Mitlebenden nicht. Die Geschichte
Aber das darf heute schon gesagt werden: Der nationale Umsturz
von 1933 war etwas Gewaltiges und wird es in den Augen der Zu-
kunft bleiben, durch die elementare, überpersönliche Wucht, mit
der er sich vollzog, und durch die seelische Disziplin, mit der er
vollzogen wurde. Das war preußisch durch und durch, wie der
Aufbruch von 191 4, der in einem Augenblick die Seelen ver-
wandelte. Die deutschen Träumer erhoben sich, ruhig, mit impo>
nierender Selbstverständlichkeit, und öffneten der Zukunft einen,;
Weg. Aber eben deshalb müssen sich die Mithandelnden darüber
klar sein: Das war kein Sieg, denn die Gegner fehlten. Vor der Ge-
oder getan war. Es war ein Versprechen künftiger Siege, die in
schweren Kämpfen erstritten werden müssen und für die hier erst
antwortung dafür auf sich genommen und sie müssen wissen oder
lernen, was das bedeutet. Es ist eine Aufgabe voll ungeheurer Ge-
fahren, und sie liegt nicht im Inneren Deutschlands, sondern draußen,
in der Welt der Kriege und Katastrophen, wo nur die große Politik
das Wort führt. Deutschland ist mehr als irgendein Land in das
Schicksal aller andern verflochten; es kann weniger als irgendein
anderes regiert werden, als ob es etwas für sich wäre. Und außerdem :
Es ist nicht die erste nationale Revolution, die sich hier ereignet hat
— Cromweü und Mirabeau sind vorangegangen — , aber es ist die
erste, die sich in einem politisch ohnmächtigen Lande in sehr ge-
EINLEITUNG
IX
fährlicher Lage vollzieht: das steigert die Schwierigkeit der Auf-
gaben ins Ungemessene.
Sie sind sämtlich erst gestellt, kaum begriffen, nicht gelöst. Es ist
keine Zeit und kein Anlaß zu Rausch und Triumphgefühl. Wehe
denen, welche die Mobilmachung mit dem Sieg verwechseln! Eine
Bewegung hat eben erst begonnen, nicht etwa das Ziel erreicht, und
die großen Fragen der Zeit haben sich dadurch in nichts geändert.
Sie gehen nicht Deutschland allein an, sondern die ganze Welt,
sie sind nicht Fragen dieser Jahre, sondern eines Jahrhunderts.
Die Gefahr der Begeisterten ist es, die Lage zu einfach zu
Begeisterung verträgt sich nicht mit Zielen, die über Generationen
hinaus liegen. Mit solchen beginnen aber erst die wirklichen Ent-
Diese Machtergreifung hat sich in einem Wirbel von Stärke und
Schwäche vollzogen. Ich sehe mit Bedenken, daß sie täglich mit so
viel Lärm gefeiert wird. Es wäre richtiger, wir sparten das für einen
Tag wirklicher und endgültiger Erfolge auf, das heißt außen-
politischer. Es gibt keine andern. Wenn sie einmal errungen sind,
werden die Männer des Augenblicks, die den ersten Schritt taten, viel-
vergessen und geschmäht, bis irgend-
sich ihrer Bedeutung erinnert. Die Geschichte ist nicht
sentimental, und wehe dem, der sich selbst sentimental nimmt !
In jeder Entwicklung mit solchem Anfang liegen viele Möglich-
keiten, deren sich die Teilnehmer selten ganz bewußt sind. Sie kann
in Prinzipien und Theorien erstarren, in politischer, sozialer, wirt-
schaftlicher Anarchie untergehen, ergebnislos zum Anfang zurück-
kehren, so wie man im Paris von 1793 deutlich fühlte, que ca
mhangerait. Dem Rausch der ersten Tage, der oft schon kommende
Möglichkeiten verdarb, folgt in der Regel eine Ernüchterung und
die Unsicherheit über den „nächsten Schritt". Es gelangen Ele-
mente zur Macht, welche den Genuß der Macht als Ergebnis be-
trachten und den Zustand verewigen möchten, der nur für Augen-
blicke tragbar ist. Richtige Gedanken werden von Fanatikern bis
zur Selbstaufhebung übersteigert. Was als Anfang Großes versprach,
endet in Tragödie oder Komödie. Wir wollen diese Gefahren bei-
zeiten und nüchtern ins Auge fassen, um klüger zu sein als manche
Generation der Vergangenheit.
Wenn aber hier das dauerhafte Fundament einer großen Zukunft
gelegt werden soll, auf dem kommende Geschlechter bauen kön-
nen, so ist das nicht ohne Fortwirken alter Traditionen möglich.
Was wir von unsern Vätern her im Blute haben, Ideen ohne Worte,
ist allein das, was der Zukunft Beständigkeit verspricht. Was ich
vor Jahren als „Preußentum" gezeichnet hatte, ist wichtig — es
hat sich gerade eben bewährt — , nicht irgendeine Art von „Sozia-
lismus". Wir brauchen eine Erziehung zu preußischer Haltung,
wie sie 1870 und 1914 da war und wie sie im Grunde unserer
Seelen als beständige Möglichkeit schläft. Nur durch lebendiges Vor-
bild und sittliche Selbstdisziplin eines befehlenden Standes ist das
erreichbar, nicht durch viel Worte oder durch Zwang. Sich selbst
beherrschen muß man, um einer Idee dienen zu können, zu inner-
lichen Opfern aus Überzeugung bereit sein. Wer das mit dem
geistigen Druck eines Programms verwechselt, der weiß nicht,
wovon hier die Rede ist. Damit komme ich auf da
mit dem ich 191 9 den Hinweis auf diese sittliche INotwenc
begonnen habe, ohne die sich nichts von Dauer errichten läßt:
„Preußentum und Sozialismus". Alle anderen WeltYÖlker haben
einen Charakter durch ihre Vergangenheit erhalten. Wir hatten
keine erziehende Vergangenheit und wir müssen deshalb den Cha-
rakter, der als Keim in unserem Blute liegt, erst wecken, entfalten,
erziehen.
Ziel soll auch dieses Werk gewidmet sein, dessen ersten
ich hier vorlege. Ich tue, was ich immer getan habe: Ich gebe
Wunschbild der Zukunft und noch weniger ein Programm zu
en Verwirklichung, wie es unter Deutschen Mode ist, sondern
ein klares Bild der Tatsachen, wie sie sind und sein werden. Ich
sehe weiter als andere. Ich sehe nicht nur große Möglichkeiten, son-
dern auch große Gefahren, ihren Ursprung und vielleicht den Weg,
ihnen zu entgehen. Und wenn niemand den Mut hat zu sehen und
zu sagen, was er sieht, will ich es tun. Ich habe ein Recht zur
Kritik, weil ich immer wieder durch sie das gezeigt habe, was ge-
schehen muß, weil es geschehen wird. Eine entscheidende Reihe
von Taten ist begonnen worden. Nichts, was einmal Tatsache ist,
läßt sich zurücknehmen. Jetzt müssen wir alle in dieser Richtung
fortschreiten, ob wir sie gewollt haben oder nicht. Es wäre kurz-
EINLEITUNG
XI
Aber das Ja setzt ein Verstehen voraus. Dem soll dies Buch dienen.
Es ist eine Warnung vor Gefahren. Gefahren gibt es immer. Jeder
Handelnde ist in Gefahr. Gefahr ist das Leben selbst. Aber wer das
Schicksal von Staaten und Nationen an sein privates Schicksal ge-
knüpft hat, muß den Gefahren sehend begegnen. Und zum Sehen
gehört vielleicht der größere Mut.
Dies Buch ist aus einem Vortrag „Deutschland in Gefahr" entstan-
den, den ich 1929 in Hamburg gehalten habe, ohne auf viel Ver-
ständnis gestoßen zu sein. Im November 1932 ging ich an die Aus-
arbeitung, immer noch der gleichen Lage in Deutschland gegen-
über. Am 3o. Januar 1933 war es bis zur Seite 106 gedruckt. Ich
habe nichts daran geändert, denn ich schreibe nicht für Monate
oder das nächste Jahr, sondern für die Zukunft. Was richtig ist,
kann durch ein Ereignis nicht aufgehoben werden. Nur den Titel
habe ich anders gewählt, um nicht Mißverständnisse zu erzeugen:
Nicht die nationale Machtergreifung ist eine Gefahr, sondern die
Gefahren waren da, zum Teil seit 191 8, zum Teil sehr viel länger,
und sie bestehen fort, weil sie nicht durch ein Einzelereignis be-
seitigt werden können, daäerst einer jahrelangen und richtigen Fort-
entwicklung bedarf, um ihnen gegenüber wirksam zu sein. Deutsch-
land ist in Gefahr. Meine Angst um Deutschland ist nicht kleiner
geworden. Der Sieg vom März war zu leicht, um den Siegern über
den Umfang der Gefahr, ihren Ursprung und ihre Dauer die Augen
zu öffnen.
Niemand kann wissen, zu was für Formen, Lagen und Persönlich-
keiten diese Umwälzung führt und was für Gegenwirkungen sie
von außen zur Folge hat. Jede Revolution verschlechtert die außen-
politische Lage eines Landes, und allein um dem gewachsen zu
sein, sind Staatsmänner vom Range Bismarcks nötig. Wir stehen
vielleicht schon dicht vor dem zweiten Weltkrieg mit unbekannter
Verteilung der Mächte und nicht vorauszusehenden — militärischen,
wirtschaftlichen, revolutionären — Mitteln und Zielen. Wir haben
keine Zeit, uns auf innerpoiitische Angelegenheiten zu beschränken.
Wir müssen für jedes denkbare Ereignis „in Form" sein. Deutsch-
land ist keine Insel. Wenn wir nicht unser Verhältnis zur Welt als
XII
EINLEITUNG
das wichtigste Problem gerade für uns sehen, geht das Schicksal
— und was für ein Schicksal ! — erbarmungslos über uns hinweg.
Deutschland ist das entscheidende Land der Welt, nicht nur seiner
Lage wegen, an der Grenze von Asien, weltpolitisch heute dem wich-
tigsten Erdteil, sondern auch weil die Deutschen noch jung genug
sind, um die weltgeschichtlichen Probleme in sich zu erleben, zu
gestalten, zu entscheiden, während andere Völker zu alt und starr
geworden sind, um mehr als eine Abwehr aufzubringen. Aber auch
großen Problemen gegenüber enthält der Angriff das größere Ver-
sprechen des Sieges.
Das habe ich beschrieben. Wird es die gehoffte Wirkung tun?
München, im Juli 1 933
Oswald Spengler
Deutschland ist keine Insel I. Angst vor der Wirklichkeit 3. Rationalismus und Ro-
mantik 5. Der tauschende Friede 1871/191$ 10. Größe der Zeit 11.
......................
Zeitalter der Weltkriege 16. Zwischen vergangenen und künftigen Machtformen, Met-
ternich 19. Der erste Weltkrieg seit 1878 drohend 20. 19 18 nichts entschieden 22.
Nationalismus a5. Die Wirtschaft machtiger als die Politik: Keim der Wirtschaf tskata-
strophe 28. Wandlung der Heere und strategischen Gedanken 3a. Flotten und Kolo-
nien 35. Wirtschaftliche Kriegführung 3g. Neue Mächte 4 1 • Rußland wieder asiatisch 43.
Japan 46. Die Vereinigten Staaten und die Revolution 47- England 5i. Frankreich 54-
Die „Revolution von unten". Zeitalter der Gracchen in Rom 58. Nicht wirtschaftlich,
sondern städtisch: Zerfall der Gesellschaft 62. Die Gesellschaft als Rangordnung 64-
Unterschiede, nichtGegensätze 66. Unterwelt der Großstadt: „vornehm" und „gemein" 67.
Ziel der Revolution: Einebnung der Gesellschaft. Demokratie == Bolschewismus 69.
Einheit der Bewegung vom Liberalismus zum Bolschewismus 78. Seit i84o Mobil-
machung der „Arbeiterklasse". „Diktatur des Proletariats" 79. Berufsagitation 80. Der
Bolschewismus nicht russisch 82. Duldung durch die liberale Gesellschaft 84« Kultus
des „Arbeiters" 87. Typus des Demagogen 88. Kirche und Klassenkampf, Kommunismus
und Religion 89. Wirtschaftlicher Egoismus als Moral des Klassenkampfes g4- Zeitalter
der revolutionären Theorie 1760/1 85o. Die Nationalökonomie seit 1770 gehört dam 97.
Negatives Ideal des Klassenkampfes: Zerstörung der Rangordnung seit 1770, der Wirt-
schaftsordnung seit i84o 99. „Kapitalismus" und ,
Sozialismus als Kapitalismus von unten 102.
durch Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung iofc
Werttheorie als Waffe durch die Praxis der politischen Löhne 110. Umfang und Wir-
kung des politischen Lohnes 112. Sieg der niederen Massenarbeit über die Führer-
arbeit 11 4- Bauerntum und städtische Luxuslöhne 116. Das krankhafte Tempo der
Wirtschaftsentwicklung eine Folge des Lohndruckes 117. Ausdehnung des Finanzkapitals
eine zweite Folge 119. Ende des Industriemonopols der weißen Arbeiterschaft 120.
Die farbigen Löhne treten in den Kampf ein 121.
XIV
INHALTSVERZEICHNIS
Um 1900 die weiße Wirtschaft schon untergraben 122. Der Zusammenbruch vom
Weltkrieg nicht bewirkt, sondern nur nicht länger aufgehalten ia3. Seit 19 16 Diktatur
der Arbeiterparteien über Staat und Wirtschaft. Die Arbeitslosigkeit 124. Ausraubung
der Gesellschaft ia5- Mangel an Einsicht. Inflation, Autarkie, Arbeitsbeschaffung 128.
Der Klassenkampf noch nicht zu Ende 12g. Zwei Fronten i3o. Was ist „links"? i3a.
Sinn des Faschismus x34- „Preußentum und Sozialismus" i36. Ausgang der „Revo-
lution von unten". Cäsarismus i4i. Individualismus als nordische Lebensform 1 43.
Die farbige Weltrevolution i47
Tatsache der zwei Revolutionen : Klassenkampf und Rassenkampf 147. Die „Revolution
von außen" gegen das römische Imperium i48- Lage der weißen Volker. Versailles ein
Sieg der farbigen Welt i5o. Das aktive Asien: Rußland und Japan i5i. Indianer i54-
Neger x56. Indien und China i56. Müdigkeit der weißen Völker: Unfruchtbarkeit 157.
Pazifismus, panem et circenses 161. Gefahr der Verständigung zwischen den Farbigen
und dem weißen Proletariat i64. Eintritt in die entscheidenden Jahrzehnte i65.
DER POLITISCHE HORIZONT
Hat heute irgend ein Mensch der weißen Rassen einen
was rings umher auf dem Erdball vor sich geht? Für die Größe der
Gefahr, die über dieser Völkermasse liegt und droht? Ich rede nicht
von der gebildeten oder ungebildeten Menge unserer Städte, den
Wählern und Gewählten längst kein Unterschied des Ranges mehr
besteht — , sondern von den führenden Schichten der weißen Na-
tionen, soweit sie nicht schon vernichtet sind, von den Staats-
männern, sofern es welche gibt, von den echten Führern der Politik
und der Wirtschaf t, der Heere und des Denkens. Sieht irgend jemand
über diese Jahre und über seinen Erdteil, sein Land, selbst über
den engen Kreis seiner Tätigkeit hinaus?
Wir leben in einer verhängnisschweren Zeit. Die großartigste Ge-
schichtsepoche nicht nur der faustischen Kultur Westeuropas mit
ihrer ungeheuren Dynamik, sondern eben um dieser willen der ge-
als die Zeiten Casars und Napoleons. Aber wie blind sind die
sehen, über die dieses gewaltige Schicksal hinwegbraust, sie durchein-
anderwirbelnd, erhebend oder vernichtend. Wer von ihnen sieht und
begreift, was mit ihnen und um sie her geschieht? Vielleicht ein alter
weiser Chinese oder Inder, der schweigend, mit einer tausendjähri-
gen Vergangenheit des Denkens im Geiste um sich blickt — aber
wie flach, wie eng, wie klein gedacht ist alles, was an l
Maßnahmen in Westeuropa und Amerika hervortritt! Wer
von den Bewohnern des mittleren Westens der Vereinigten Staaten
wirklich etwas von dem, Was jenseits von Newyork und San Fran-
zisko vor sich geht? Was ahnt ein Mann der englischen Mittelklasse
von dem, was auf dem Festland drüben sich vorbereitet, um von der
französischen Provinz zu schweigen? Was wissen sie alle von der
Richtung, in welcher ihr eigenes Schicksal sich bewegt? Da entstehen
2
DER POLITI SCHE HORIZONT
Strophen im Umfang von Generationen durch prosperity und Ab-
rüstung zu „überwinden".
Aber ich rede hier von Deutschland, das im Sturm der Tatsachen
tiefer bedroht ist als irgend ein anderes Land, dessen Existenz im
erschreckenden Sinne des Wortes in Frage steht. Welche Kurzsichtig-
keit und geräuschvolle Flachheit herrschen hier, was für provinziale
Standpunkte tauchen auf, wenn von den größten Problemen die Rede
ist! Man gründe innerhalb unserer Grenzpfähle das Dritte Reich
oder den Sowjetstaat, schaffe das Heer ab oder das Eigentum, die
Wirtschaftsführer oder die Landwirtschaft, man gebe den einzelnen
Länderchen möglichst viel Selbständigkeit oder beseitige sie, man
lasse die alten Herren von der Industrie oder Verwaltung wieder im
Stile von 1900 arbeiten oder endlich, man mache eine Revolution,
proklamiere die Diktatur, zu der sich dann ein Diktator schon finden
wird — vier Dutzend Leute fühlen sich dem schon längst gewachsen
— und alles ist schön und gut.
Aber Deutschland ist keine Insel. Kein zweites Land ist in dem
Grade handelnd oder leidend in das Weltschicksal verflochten. Seine
geographische Lage aliein, sein Mangel an natürlichen Grenzen ver-
urteilen es dazu. Im 18. und ig. Jahrhundert war es „Mitteleuropa",
im 20. ist es wieder wie seit dem 1 3. Jahrhundert ein Grenzland
gegen „Asien", und niemand hat es nötiger, politisch und wirtschaft-
lich weit über die Grenzen hinaus zu denken, als die Deutschen. Alles
was in der Ferne geschieht, zieht seine Kreise bis ins Innere
Deutschlands.
Aber unsere Vergangenheit rächt sich, diese 700 Jahre jammervoller
provinzialer Kleinstaaterei ohne einen Hauch von Größe, ohne Ideen,
ohne Ziel. Das läßt sich nicht in zwei Generationen einholen. Und
die Schöpfung Bismarcks hatte den großen Fehler, das heranwach-
sende Geschlecht nicht für die Tatsachen der neuen Form unseres
politischen Lebens erzogen zu haben. 1 Man sah sie, aber begriff sie
l, CigHUlX; Olli ölAvll U1UC1 ÜUll Ulli üilOil UVI liUH ICJI,
und neuen Pflichten nicht an. Man lebte nicht mit ihnen. Und der
Durchschnittsdeutsche sah nach wie vor die Geschicke seines großen
Landes parteimäßig und partikularistisch an, das heißt flach, eng,
deine Denken begann, seit die Stau-
DER POLITISCHE HORIZONT
3
fenkaiser mit ihrem Blick über das Mittelmeer hin und die Hansa,
die einst von der Sc
Mangels an einer realpolitischen Stützung im Hinter lande anderen,
sicherer begründeten Mächten erlegen waren. Seitdem sperrte man
indchen und Winkelinteressen ein, maß die
lichte an deren Horizont und träumte hungernd und arm-
1 von einem Reich in den Wolken, wofür man das Wort Deutscher
Idealismus erfand. Zu diesem kleinen, innerdeutschen Denken ge-
hört noch fast alles, was an politischen Idealen und Utopien im
Sumpfboden des Weimarer Staates aufgeschossen ist, all die inter-
nationalen, kommunistischen, pazifistischen, ultramontanen, föde-
ralistischen, „arischen" Wunschbilder vom Sacrum Imperium,
Sowjetstaat oder Dritten Reich. Alle Parteien denken und handeln
so, als wenn Deutschland allein auf der Welt wäre. Die Ge werk-
schaften sehen nicht über die Industriegebiete hinaus. Kolonial-
politik war ihnen von jeher verhaßt, weil sie nicht in das Schema
des Klassenkampfes paßte. In ihrer doktrinären Beschränktheit be-
greifen sie nicht oder wollen nicht begreifen, daß der wirtschaft-
liche Imperialismus der Zeit um 1900 gerade für den Arbeiter eine
Voraussetzung seiner Existenz war mit seiner Sicherung von Absatz
der Produkte und Gewinnung von Rohstoffen, was der englische
Arbeiter längst begriffen hatte. Die deutsche Demokratie schwärmt
für Pazifismus und Abrüstung außerhalb der französischen Macht-
grenzen. Die Föderalisten möchten das ohnehin kleine Land wieder
Zwergstaaten ehemaligen Gepräges verwandeln
fremden Mächten Gelegenheit geben, den einen gegen
den andern auszuspielen. Und die Nationalsozialisten glauben ohne
und gegen die Welt fertig zu werden und ihre Luftschlösser bauen
zu können, ohne eine mindestens schweigende aber sehr fii
Gegenwirkung von außen her.
Dazu kommt die allgemeine Angst vor der Wirklichkeit. Wir
„Bleichgesichter" haben sie alle, obwohl wir ihrer sehr selten, die
meisten nie bewußt werden. Es ist die seelische Schwäche des späten
Menschen hoher Kulturen, der in seinen Städten vom Bauerntum
4
DER POLITISCHE HORIZONT
mütterlichen Erde und damit vom natürlichen Erleben von
Schicksal, Zeit und Tod abgeschnitten ist. Er ist allzu wach ge-
worden, an das ewige Nachdenken über das Gestern und Morgen ge-
wöhnt und erträgt das nicht, was er sieht und sehen muß: den
unerbittlichen Gang der Dinge, den sinnlosen Zufall, die wirk-
liche Geschichte mit ihrem mitleidlosen Schritt durch die Jahr-
hunderte, in die der einzelne mit seinem winzigen Privatleben an
bestimmter Stelle unwiderruflich hineingeboren ist. Das ist es, was
er vergessen, widerlegen, abstreiten möchte. Er flieht aus der Ge-
schichte in die Einsamkeit, in erdachte und weltfremde Systeme,
in irgend einen Glauben, in den Selbstmord. Er steckt, als ein gro-
»trauß, seinen Kopf in Hof f nungen, Ideale, in feigen
ius: es ist so, aber es soll nicht so sein, also ist es anders,
im Walde singt, tut es aus Angst. Aus derselben Angst
te die Feigheit der Städte ihren angeblichen Optimismus
inaus. Sie vertragen die Wirklichkeit nicht mehr. Sie
setzen ihr Wunschbild der Zukunft an die Stelle der Tatsachen —
obwohl die Geschichte sich noch nie um Wünsche der Menschen
gekümmert hat — vom Schlaraffenland der kleinen Kinder bis
zum Weltfrieden und Arbeiterparadies der großen.
So wenig man von den Ereignissen der Zukunft weiß — nur die
allgemeine Form künftiger Tatsachen und deren Schritt durch die
Zeiten läßt sich aus dem Vergleich mit anderen Kulturen erschließen
— , so sicher ist es, daß die bewegenden Mächte der Zukunft keine
anderen sind als die der Vergangenheit: der Wille de3 Stärkeren,
die gesunden Instinkte, die Rasse, der Wille zu Besitz und Macht:
und darüber hin schwanken wirkungslos die Träume, die immer
Träume bleiben werden : Gerechtigkeit, Glück und Friede.
Dazu kommt aber für unsere Kultur seit dem 1 6. Jahrhundert die
wickelter und undurchsichtiger werdenden Ereignisse und Lagen
der großen Politik und Wirtschaft noch zu übersehen und die in
ihnen wirkenden Mächte und Tendenzen zu begreifen, geschweige
denn zu beherrschen. Die echten Staatsmänner werden immer sel-
tener. Das meiste, was in der Geschichte dieser Jahrhunderte ge-
macht und nicht geschehen ist, ist von Halbkennern und Dilettanten
DER POLITISCHE HORIZONT
5
hin auf die Völker verlassen, deren Instinkt sie gewähren ließ. Erst
heute ist dieser Instinkt so schwach und die redselige Kritik aus
fröhlicher Unwissenheit so stark geworden, daß die wachsende Ge-
fahr besteht, ein wirklicher Staatsmann und Kenner der Dinge werde
nicht etwa instinktiv gebilligt oder auch nur murrend ertragen,
sondern durch den Widerstand aller Besserwisser gehindert das zu
tun, was getan werden muß. Das erste konnte Friedrich der Große
erfahren, das letzte wurde beinahe das Schicksal Bismarcks. Die
chöpfungen solcher Führer würdigen können erst
Geschlechter und nicht einmal die. Aber es kommt darauf an,
daß die Gegenwart sich auf Undank und Unverständnis beschränkt
und nicht zu Gegenwirkungen übergeht. Besonders die Deutschen
darin, schöpferische Taten zu beargwöhnen, zu bekrit-
teln, zu vereiteln. Die historische Erfahrung und die Stärke der
Tradition, wie sie im englischen Leben zu Hause sind, geht ihnen
ab. Das Volk der Dichter und Denker, das im Begriff ist, ein Volk
der Schwätzer und Hetzer zu werden ! Jeder wirkliche Staatslenker
ist unpopulär, die Folge der Angst, Feigheit und Unkenntnis der
Zeitgenossen, aber selbst um das zu verstehen, muß man mehr
sein als ein „Idealist' \
Wir befinden uns heute noch im Zeitalter des Rationalismus,
das im 18. Jahrhundert begann und im 20. rasch zu Ende geht. 1 Wir
sind alle seine Geschöpfe, ob wir es wissen und wollen oder nicht.
Das Wort ist jedem geläufig, aber wer weiß, was alles dazugehört?
Es ist der Hochmut des städtischen, entwurzelten, von keinem starken
Instinkt mehr geleiteten Geistes, der auf das blutvolle Denken der
Vergangenheit und die Weisheit alter Bauerngeschlechter mit Ver-
achtung herabsieht. Es ist die Zeit, in der jeder lesen und schreiben
kann und deshalb mitreden will und alles besser versteht. Dieser
Geist ist von Begriffen besessen, den neuen Göttern dieser Zeit,
und er übt Kritik an der Welt: sie taugt nichts, wir können das
besser machen, wohlan, stellen wir ein Programm der besseren Welt
auf! Nichts ist leichter als das, wenn man Geist hat. Verwirklichen
wird es sich dann wohl von selbst. Wir nennen das einstweilen den
,, Fortschritt der Menschheit". Da es einen Namen hat, ist es da. Wer
1 Unt. d. Abendl. II, S. S74ff. Der „Untergang des Abendlandes" wird nach den neuen
Ausgaben seit 192/j zitiert (Bd. I 65., Bd. II 43. Aufl. u. folg.).
6
DER POLITISCHE HORIZONT
daran zweifelt, ist beschränkt, ein Reaktionär, ein Ketzer, vor allem
ist die Angst vor der Wirklichkeit vom geistigen Hochmut
überwunden worden, dem Dünkel aus Unwissenheit in allen Dingen
des Lebens, aus seelischer Armut, aus Mangel an Ehrfurcht, zu-
letzt aus weltfremder Dummheit, denn nichts ist dümmer als die
wurzellose städtische Intelligenz. In englischen Kontoren und Klubs
nannte man sie common sense, in französischen Salons esprit, in
mus des Bildungsphilisters beginnt die elementaren Tatsachen der
Geschichte nicht mehr zu fürchten, sondern zu verachten. Jeder
sie begrifflich vollkommener machen als sie wirklich sind, sie sich
im Geiste Untertan wissen, weil er sie nicht mehr erlebt, sondern
nur noch erkennt. Dieser doktrinäre Hang zur Theorie aus Mangel
an Erfahrung, besser aus mangelnder Begabung Erfahrungen zu
machen, äußert sich literarisch im unermüdlichen Entwerfen von
politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systemen und Utopien,
praktisch in der Wut des Organisierens, die zum abstrakten
Selbstzweck wird und Bürokratien zur Folge hat, die an ihrem
eigenen Leerlauf zugrunde gehen oder lebendige Ordnungen zu-
grunde richten. Der Rationalismus ist im Grunde nichts als Kritik,
und der Kritiker ist das Gegenteil des Schöpfers : er zerlegt und fügt
zusammen; Empfängnis und Geburt sind ihm fremd. Deshalb ist
sein Werk künstlich und leblos und tötet, wenn es mit wirklichem
auf dem Papier entstanden, methodisch und absurd, und leben nur
auf dem Papier. Das beginnt zur Zeit Rousseaus und Kants mit
geht im 19. Jahrhundert zu wissenschaftlichen Konstruktionen über
mit naturwissenschaftlicher, physikalischer, darwinistischer Me-
thode — Soziologie, Nationalökonomie, materialistische Geschichts-
schreibung — und verliert sich im 20. im Literatentum der Ten-
denzromane und Parteiprogramme.
Aber man täusche sich nicht : Idealismus und Materialismus gehören
DER POLITISCHE HORIZONT
7
Proudhon, die Ideologen der Befreiungskriege ebenso wie Marx, die
materialistische Auffassung der Geschichte in demselben Grade wie
die idealistische: Ob man als deren „Sinn" und ..Zweck" den Fort-
schritt, die Technik, die „Freiheit", das „Glück der meisten" an-
sieht, oder die Blüte von Kunst, Dichtung und Denken, das macht
wenig aus. In beiden Fallen hat man nicht bemerkt, daß das Schick-
sal in der Geschichte von ganz anderen, robusteren Mächten ab-
hängt. Menschengeschichte ist Kriegsgeschichte. Von den wenigen
den Staatsmännern
half.
Aber ebenso wie Idealismus und Materialismus ist die Romantik
ein Ausdruck rationalistischer Überhebung aus Mangel an Sinn für
die Wirklichkeit. Sie sind im tiefsten Grunde verwandt und es wird
schwer sein, bei irgend einem politischen oder sozialen Romantiker
die Grenze zwischen diesen Richtungen des Denkens zu finden. In
jedem bedeutenden Materialisten steckt ein heimlicher Romantiker. 1
Gewiß, man verachtet den kalten, flachen, methodischen Geist der
andern, aber man besitzt selbst genug davon, um es mit den gleichen
Mitteln, dem gleichen Dünkel zu tun. Romantik ist kein Zeichen
starker Instinkte, sondern schwachen, sich selbst hassenden In-
tellekts. Sie sind alle infantil, diese Romantiker, Männer, die zu
lange oder immer Kinder geblieben sind, ohne die Kraft zur Selbst-
kritik, aber mit ewigen Hemmungen aus dem dumpfen Bewußtsein
persönlicher Schwäche und von dem kranken Gedanken getrieben,
die Gesellschaft abzuändern, die ihnen zu männlich, zu gesund,
zu nüchtern ist, nicht mit Messer und Revolver wie in Rußland,
beileibe nicht, sondern mit edlem Gerede und poetischen Theorien.
Wehe ihnen, wenn sie nicht künstlerische Begabung genug besitzen,
um sich die fehlende Gestaltungskraft wenigstens einzureden. Aber
auch da sind sie weibisch und schwächlich: sie können keinen gro-
ßen Roman, keine strenge Tragödie auf die Beine stellen, noch
weniger eine geschlossene starke Philosophie: nur innerlich form-
lose Lyrik, blutleere Schemata und fragmentarische Gedanken kom-
zum Vorschein, weltfremd und weltfeindlich bis zur Absurdität.
1 Die Welträlsel Haeckels z. B. sind das Buch eines reinen Schwärmers und schwachen
DER POLITISCHE HORIZONT
Aber so waren auch die ewigen „Jünglinge" nach i8i5 mit ihren
Stein konnte seinen romantischen
Staatsordnungen nicht so weit bändigen, um von seiner großen
praktischen Erfahrung den diplomatisch erfolgreichen Gebrauch
zu machen. Gewiß, sie waren heldenhaft, edel und jeden Augenblick
bereit Märtyrer zu sein, aber sie sprachen zu viel von deutschem
Wesen und zu wenig von Eisenbahnen und Zollverein, und deshalb
sind sie für die wirkliche Zukunft Deutschlands nur ein Hinder-
nis gewesen. Haben sie je den Namen des großen Friedrich List
gehört, der i846 Selbstmord beging, weil niemand seine voraus-
schauenden realpolitischen Ziele -
Nationalwirtschaft — begriff und unterstützte?
Arminius und Thusnelda kannten sie alle.
Und genau dieselben ewigen Jünglinge sind heute wieder da. un-
aber frischweg über Politik schreibend und mitredend, von Uni-
formen und Abzeichen begeistert und mit dem fanatischen Glauben
an irgend eine Theorie. Es gibt eine Sozialromantik des schwärme-
rischen Kommunismus, eine politische Romantik, die Wahlziffern
und den Rausch von Massenreden für Taten hält, und eine Wirt-
schaftsromantik, die ohne alle Kenntnis der inneren Formen realer
fühlen sich nur in Masse, weil sie da das dunkle Gefühl ihrer
Schwäche betäuben können, indem sie sich multiplizieren. Und das
nennen sie Überwindung des Individualismus.
Und sie sind, wie alle Rationalisten und Romantiker, sentimental
wie ein Gassenhauer. Schon der Contrat social und die Menschen-
rechte stammen aus dem Zeitalter der Empfindsamkeit. Burke be-
tonte als echter Staatsmann demgegenüber mit Recht, daß sie da
drüben ihre Rechte nicht als Menschen, sondern als Engländer for-
derten. Das war praktisch und politisch gedacht, nicht rationalistisch
die über allen theoretischen Strömungen dieser zwei Jahrhunderte
liegt, dem Liberalismus, Kommunismus, Pazifismus, über allen
evolutionen, stammt aus seelischer Unbe-
DER POLITISCHE HORIZONT
y
eine strenge alte Tradition. Sie ist „bürgerlich" oder „plebejisch",
soweit das Schimpfworte sind. Sie sieht die menschlichen Dinge,
die Geschichte, das politische und wirtschaftliche Schicksal von
unten, klein und kleinlich, aus dem Kelierfenster, von der Gasse,
dem Literatencafe, der Volksversammlung her, nicht aus der Höhe
und Ferne. Jede Art von Größe, alles was aufragt, herrscht, über-
legen ist, ist ihr verhaßt, und Aufbau bedeutet ihr in Wirklichkeit
den Abbau aller Schöpfungen der Kultur, des Staates, der Gesell-
schaft bis zum Niveau der kleinen Leute, über das ihr armseliges
Gefühl nicht begreifend hinausragt. Das allein ist heute volkstüm-
lich und volksfreundlich, denn „Volk" bedeutet im Munde jedes
Rationalisten und Romantikers nicht die formvolle, vom Schick-
sal im Laufe langer Zeiten gestaltete, geschichtete Nation, sondern
den Teil der flachen formlosen Masse, den jeder gerade als seines-
gleichen empfindet, vom „Proletariat" bis zur „Menschheit".
Diese Herrschaft des städtischen wurzellosen Geistes geht heute zu
Ende. Als letzte Art des Verstehens der Dinge wie sie sind, erscheint
die Skepsis, der gründliche Zweifel an Sinn und Wert des theo-
retischen Nachdenkens, an dessen Fähigkeit kritisch und begriff-
lich irgend etwas zu erschließen und praktisch irgend etwas zu
leisten: die Skepsis in Form der großen historischen und physio-
gnomischen Erfahrung, des unbestechlichen Blickes für Tatsachen,
der wirklichen Menschenkenntnis, die lehrt, wie der Mensch war
und ist und nicht wie er sein sollte, des echten Geschichtsdenkens,
das unter anderem lehrt, wie oft solche Zeitalter der allmächtigen
Kritik schon da waren und wie erfolglos sie vergangen sind; die
Ehrfurcht vor den Tatsachen des Weltgeschehens, die innerlich
Geheimnisse sind und bleiben, die wir nur beschreiben und nicht er-
klären können und die praktisch nur durch Menschen von starker
Rasse, die selbst historische Tatsachen sind, gemeistert wer-
den können und nicht durch sentimentale Programme und Systeme.
Dieses harte historische Wissen um die Tatsachen, wie es in diesem
Jahrhundert beginnt, ist den weichen, unbeherrschten Naturen un-
erträglich. Sie hassen den, der sie feststellt, und nennen ihn einen
Pessimisten. Nun gut, aber dieser starke Pessimismus, zu dem die
Menschenverachtung aller großen Tatmenschen gehört, die Men-
10
DER POLITISCHE HORIZONT
müden Seelen, welche das Leben fürchten und den Blick auf die
Wirklichkeit nicht ertragen. Das erhoffte Leben in Glück, Frieden,
ohne Gefahr, in breitem Behagen ist langweilig, greisenhaft und
ist außerdem nur denkbar, nicht möglich. An dieser Tatsache, an
Virklicl
Was die augenblickliche Weltlage betrifft, so sind wir alle in Ge-
fahr sie falsch zu sehen. Seit dem amerikanischen Bürgerkrieg
(i865), dem deutsch-französischen Krieg (1870) und der vikto-
rianischen Zeit hat sich bis 191 4 ein so unwahrscheinlicher Zustand
von Ruhe, Sicherheit, friedlichem und sorglos fortschreitendem Da-
sein über die weißen Völker verbreitet, daß man in allen Jahr-
nach etwas ähnlichem sucht. Wer das erlebt
ren davon hört, erliegt immer wieder der Nei-
gung, es für normal zu halten, die wüste Gegenwart als Störung
dieses natürlichen Zustandes aufzufassen und zu wünschen, daß es
Fall sein. Dergleichen wird nie wiederkommen. Man kennt die
Gründe nicht, die diesen auf die Länge unmöglichen Zustand her-
beigeführt haben : die Tatsache, daß die stehenden und immer wach-
senden Heere einen Krieg so unberechenbar machten, daß kein
Staatsmann mehr einen zu führen wagte; die Tatsache, daß die tech-
nische Wirtschaft sich in einer fieberhaften Bewegung befand, die
ein rasches Ende nehmen mußte, weil sie sich auf rasch hinschwin-
dende Bedingungen stützte; und endlich die Tatsache, daß durch
beides die schweren ungelösten Probleme der Zeit immer weiter
und Enkeln zugeschoben wurden, als
kommender Geschlechter, bis man nicht mehr an ihr
handensein glaubte, obwohl sie in ständig wachsender Spannung aus
der Zukunft herüberdrohten.
Einen langen Krieg ertragen wenige, ohne seelisch zu verderben;
einen langen Frieden erträgt niemand. Diese Friedenszeit von 1870
bis 191 4 und die Erinnerung an sie hat alle weißen Menschen satt ?
DER POLITISCHE HORIZONT
11
rungen, mit denen heute jeder Demagoge auftritt, Forderungen
sagung auch nur zu erinnern.
Dieser allzulange Friede über dem vor wachsender Erregung zittern-
den Boden ist eine furchtbare Erbschaft. Kein Staatsmann, keine
Partei, kaum ein politischer Denker steht heute sicher genug, um die
Wahrheit zu sagen. Sie lügen alle, sie stimmen alle in den Chorus
der verwöhnten und unwissenden Menge ein, die es morgen so und
noch besser haben will wie einst, obwohl die Staatsmänner und
Wirtschaftsführer die furchtbare Wirklichkeit besser kennen soll-
ten. Aber was für Führer haben wir heute in der Welt! Dieser
feige und unehrliche Optimismus kündet jeden Monat einmal
die „wiederkehrende" Konjunktur und prosperity an, sobald ein
paar Haussespekulanten die Kurse flüchtig steigen lassen ; das Ende
der Arbeitslosigkeit, sobald irgendwo 100 Mann eine
und vor allem die erreichte „Verständigung" der Völ
Völkerbund, dieser Schwärm von Sommerfrischlern, die am Genfer
See schmarotzen, irgend einen Entschluß faßt. Und in allen Ver-
sammlungen und Zeitungen hallt das Wort Krise wider als der
Ausdruck für eine vorübergehende Störung des Behagens, mit dem
man sich über die Tatsache belügt, daß es sich um eine Katastrophe
von unabsehbaren Ausmaßen handelt, die normale Form, in der
sich die großen Wendungen der Geschichte vollziehen.
Denn wir leben in einer gewaltigen Zeit. Es ist die größte, welche
die Kultur des Abendlandes je erlebt hat und erleben wird, dieselbe,
welche die Antike von Cannä bis Aktium erlebt hat, dieselbe, aus
der die Namen Hannibal, Scipio, Gracchus, Marius, Sulla, Cäsar
herüberleuchten. 1 Der Weltkrieg war für uns nur der erste Blitz
und Donner aus der Gewitterwolke, die schicksalsschwer über dieses
Jahrhundert dahinzieht. Die Form der Welt wird heute aus dem
Grunde umgeschaffen wie damals durch das beginnende Imperium
Romanum, ohne daß das Wollen und Wünschen „der meisten" be-
achtet und ohne daß die Opfer gezählt werden, die jede solche Ent-
scheidung fordert. Aber wer versteht das? Wer erträgt das? Wer
empfindet es als Glück, dabei zu sein? Die Zeit ist gewaltig, aber
i Unt. d. Abendl. II, S.5i8ff.
12
DER POLITISCHE HORIZONT
um so kleiner sind die Menschen. Sie ertragen keine Tragödie mehr,
end flacher Unterhaltungsromane, kümmerlich und
sind. Aber das Schicksal, das sie in diese Jahrzehnte hineingeworfen
hat, packt sie beim Kragen und tut mit ihnen, was getan werden
muß, ob sie nun wollen oder nicht. Die feige Sicherheit vom Aus-
gang des vorigen Jahrhunderts ist zu Ende. Das Leben in Ge-
fahr, das eigentliche Leben der Geschichte, tritt wieder in sein
der den Mut hat, die Dinge zu sehen und zu
nehmen, wie sie sind. Die Zeit kommt — nein, sie ist schon da! —
die keinen Raum mehr hat für zarte Seelen und schwächliche Ideale.
Das uralte Barbarentum, das Jahrhunderte lang unter der Formen-
strenge einer hohen Kultur verborgen und gefesselt lag, wacht
wieder auf, jetzt wo die Kultur vollendet ist und die Zivilisation
begonnen hat, jene kriegerische gesunde Freude an der eigenen
Kraft, welche das mit Literatur gesättigte Zeitalter des rationali-
stischen Denkens verachtet, jener ungebrochene Instinkt der Rasse,
der anders leben will als unter dem Druck der gelesenen Bücher-
masse und Bücherideale. Im westeuropäischen Volkstum lebt noch
genug davon, auch in den amerikanischen Prärien und darüber
hinaus in der großen nordasiatischen Ebene, wo die Welteroberer
Ist das „Pessimismus"? Wer es so empfindet, hat also die fromme
Lüge oder den Schleier der Ideale und Utopien not ig, um vor dem
Anblick der Wirklichkeit geschützt, von ihm erlöst zu sein? Es ist
möglich, daß das die Mehrzahl der weißen Menschen tut, sicherlich
in diesem Jahrhundert, ob aber auch in den folgenden? Ihre Vor-
fahren in der Zeit der Völkerwanderung und der Kreuzzüge waren
dem Leben sind in der indischen Kultur auf gleicher Zeitstufe der
Buddhismus und die verwandten Richtungen entstanden, die unter
uns beginnen Mode zu werden. Es ist wohl möglich, daß hier eine
Spätreligion des Abendlandes in Bildung begriffen ist, vielleicht in
christlicher Verkleidung, vielleicht nicht, wer kann das wissen?
Die religiöse „Erneuerung", welche den Rationalismus als
DER POLITISCHE HORIZONT
13
stehung neuer Religionen. Die müden, feigen, vergreisten Seelen
wollen sich aus dieser Zeit in irgend etwas flüchten, das sie durch
Wunderlichkeiten der Lehren und Bräuche besser in Vergessen-
heit wiegt, als es offenbar die christlichen Kirchen vermögen. Das
credo quia absurdum ist wieder obenauf. Aber die Tiefe des Welt-
leidens, ein Gefühl, das so alt ist als das Grübeln über die Welt
selbst, die Klage über die Absurdität der Geschichte und die Grau-
samkeit des Lebens stammt nicht aus den Dingen, sondern aus dem
kranken Denken über sie. Es ist das ve
den Wert und die Kraft der eigenen Seele. Ein
nicht notwendig mit Tränen gesättigt.
Es gibt ein nordisches Weltgefühl — von England bis nach Japan
hin — voll Freude gerade an der Schwere des menschlichen Schick-
sals. Man fordert es heraus, um es zu besiegen. Man geht stolz zu-
grunde, wenn es sich stärker erweist als der eigene Wille. So war
vom Kampf zwischen den Kurus und Pandus berichten, bei Homer,
Pindar und Aisehylos, in der germanischen Heidendichtung und
bei Shakespeare, in manchen Liedern des chinesischen Schuking
fassung des Lebens, die heute nicht ausgestorben ist, die in Zu-
kunft eine neue Blüte erleben wird und sie im Weltkrieg schon er-
lalb sind alle ganz großen Dichter aller nordischen
ren Tragiker gewesen und die Tragödie über Ballade und Epos
hinaus die tiefste Form dieses tapferen Pessimismus. Wer keine
Tragödie erleben, keine ertragen kann, kann auch keine Gestalt
lieh ist, nämlich tragisch, vom Schicksal durchweht, vor dem Auge
der Nützlichkeitsanbeter also ohne Sinn, Ziel und Moral, der ist
auch nicht imstande, Geschichte zu machen. Hier scheidet sich das
überlegene und das unterlegene Ethos des menschlichen Seins. Das
Leben des einzelnen ist niemand wichtig als ihm selbst: ob er es
aus der Geschichte flüchten oder für sie opfern will, darauf kommt
es an. Die Geschichte hat mit menschlicher Logik nichts zu tun. Ein
Gewitter, ein Erdbeben, ein Lavastrom, die wahllos Leben vernich-
ten, sind den planlos elementaren Ereignissen der Weltgeschichte
verwandt. Und wenn auch Völker zugrunde gehen und alte Städte
14
DER POLITISCHE HORIZONT
altgewordener Kulturen brennen oder in Trümmer sinken, deshalb
kreist doch die Erde ruhig weiter um die Sonne und die Sterne
ziehen ihre Bahn.
Der Mensch ist ein Raubtier. 1 Ich werde es immer wieder sagen.
All die Tugendbolde und Sozialethiker, die darüber hinaus sein
Zähnen, die andere wegen der Angriffe hassen, die sie selbst weis-
lich vermeiden. Seht sie doch an: sie sind zu schwach, um ein Buch
n aui der ötral5e
um ihre Nerven an dem Blut und
wenn ein Unglüi
Geschrei zu erregen, und wenn sie auch das nicht mehr wagen kön-
nen, dann genießen sie es im Film und in den illustrierten Blättern.
Wenn ich den Menschen ein Raubtier nenne, wen habe ich damit
beleidigt, den Menschen — oder das Tier? Denn die großen Raub-
tiere sind edle Geschöpfe in vollkommenster Art und ohne die
Sie schreien: Nie wieder Krieg! — aber sie wollen den Klassen-
kampf. Sie sind entrüstet, wenn ein Lustmörder hingerichtet wird,
aber sie genießen es heimlich, wenn sie den Mord an einem poli-
tischen Gegner erfahren. Was haben sie je gegen die Schlächtereien
der Bolschewisten einzuwenden gehabt? Nein, der Kampf ist die
Urtatsache des Lebens, ist das Leben selbst, und es gelingt
auch dem jämmerlichsten Pazifisten nicht, die Lust daran in seiner
Seele ganz auszurotten. Zum mindesten theoretisch möchte er alle
Gegner des Pazifismus bekämpfen und vernichten.
Je tiefer wir in den Cäsarismus der faustischen Welt hinein-
schreiten, desto klarer wird sich entscheiden, wer ethisch zum Sub-
jekt und wer zum Objekt des historischen Geschehens bestimmt
ist. Der triste Zug der Weltverbesserer, der seit Rousseau durch
diese Jahrhunderte trottete und als einziges Denkmal seines Da-
seins Berge bedruckten Papiers auf dem Wege zurückließ, ist zu
Ende. Die Cäsaren werden an ihre Stelle treten. Die große Politik
als die Kunst des Möglichen fern von allen Systemen und Theo-
rien, als die Meisterschaft, mit den Tatsachen als Kenner zu
schalten, die Welt wie ein guter Reiter durch den Schenkeldruck
zu regieren, tritt wieder in ihre ewigen Rechte,
i Der
DER POLITISCHE HORIZONT
15
Deshalb will ich hier nichts tun als zeigen, in welcher geschicht-
lichen Lage sich Deutschland und die Welt befinden, wie diese
Lage aus der Geschichte vergangener Jahrhunderte mit Notwendig-
keit hervorgeht, um unausweichlich auf gewisse Formen und Lösun-
gen zuzuschreiten. Das ist Schicksal. Man kann es verneinen, aber
damit verneint man sich selbst.
Die „Weltkrise" dieser Jahre wird, wie schon das Wort beweist, viel
zu flach, zu leicht und zu einfach aufgefaßt, je nach dem Standort,
den Interessen, dem Horizont des Beurteilers : als Krise der Produk-
tion, der Arbeitslosigkeit, der Währung, der Kriegsschulden und Repa-
rationen, der Außen- oder der Innenpolitik, vor allem als Folge des
Weltkrieges, der sich nach Meinung der Leute bei größerer diplo-
matischer Ehrlichkeit und Geschicklichkeit hätte vermeiden lassen.
Man redet, vor allem mit dem Seitenblick auf Deutschland, von
Kriegswillen und Kriegsschuld. Natürlich hätten Iswolski, Poincare
und Grey die Absicht aufgegeben, die vollzogene Einkreisung
rationen 191 1 in Tripolis und 1912 auf dem Balkan begannen, dem
gewünschten politischen Ergebnis zuzuführen, wenn sie den heu-
tsame Entladung der nicht nur politischen Spannung, viel-
mit einer etwas anderen und weniger grotesken Verteilung
[ächte, auch nur um ein weiteres Jahrzehnt aufzuhalten ge-
wesen? Die Tatsachen sind immer stärker als die Menschen, und der
Umkreis des Möglichen ist selbst für einen großen Staatsmann viel
enger, als es der Laie sich denkt. Und was wäre geschichtlich
damit geändert worden? Die Form, das Tempo der Katastrophe,
nicht diese selbst. Sie war der notwendige Abschluß eines Jahr-
hunderts abendländischer Entwicklung, das sich seit Napoleon in
wachsender Erregung auf sie zu bewegte.
Wir sind in das Zeitalter der Weltkriege eingetreten. Es be-
ginnt im 19. Jahrhundert und wird das gegenwärtige, wahrschein-
lich auch das nächste überdauern. Es bedeutet den Übergang von
der Staatenwelt des 18. Jahrhunderts zum Imperium mundi. Es
und Aktium, die von der Form der hellenistischen Staatenwelt ein-
schließlich Roms und Karthagos zum Imperium Romanum hinüber-
leiteten. Wie dieses den Bereich der antiken Zivilisation und ihrer
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
17
eine unbekannte Zeitdauer das Schicksal des Erdballs sein. Der Im-
perialismus ist eine Idee, ob sie nun den Trägern und Vollstrek-
kern zum Bewußtsein kommt oder nicht. Sie wird in unserem Falle
vielleicht nie volle Wirklichkeit werden, vielleicht von anderen Ideen
durchkreuzt werden, die außerhalb der Welt der weißen Völker
Leben gewinnen, aber sie liegt als Tendenz einer großen geschicht-
lichen Form in allem, was jetzt vor sich geht.
Wir leben heute , »zwischen den Zeiten". Die Staatenwelt des Abend-
landes war im 1 8. Jahrhundert ein Gebilde strengen Stils wie die
gleichzeitigen Schöpfungen der hohen Musik und Mathematik. 1 Sie
war vornehme Form, nicht nur in ihrem Dasein, sondern auch in
ihren Handlungen und Gesinnungen. Es herrschte überall eine alte
und mächtige Tradition. Es gab vornehme Konventionen des Re-
gierens, der Opposition, der diplomatischen und kriegerischen Be-
ziehungen der Staaten untereinander, des Einge
läge und der Forderungen und Zugeständnisse bei Friedenssehl i
Die Ehre spielte noch eine unangefochtene Rolle. Alles ging
moniös und höflich vor sich wie bei einem Duell.
Seitdem Peter der Große in Petersburg einen St
Formen begründet hatte, 2 beginnt das Wort „Europa" in den allge-
meinen Sprachgebrauch der westlichen Völker einzudringen und in-
folgedessen, wie es üblich ist, unvermerkt auch in das praktische
politische Denken und die geschichtliche Tendenz. Bis dahin war es
ein gelehrter Ausdruck der geographischen Wissenschaft gewesen,
die sich seit der Entdeckung Amerikas am Entwerfen von Land-
karten entwickelt hatte. Es ist bezeichnend, daß das türkische Reich,
damals noch eine wirkliche Großmacht, welche die ganze Balkanhalb-
insel und Teile des südlichen Rußland besaß, instinktiv nicht dazu-
gerechnet wurde. Und Rußland selbst zählte im Grunde nur als
Petersburger Regierung. Wie viele der westlichen Diplomaten kann-
ten denn Astrachan, Nishnij Nowgorod, selbst Moskau, und rechneten
sie gefühlsmäßig zu „Euroj
Kultur lag immer dort, wo
stand gekommen war.
In diesem „Europa" bildete Deutschland die Mitte, kein Staat, son-
1 Uni. d. Abendl. II, S.484f.
2 Polit. Schriften S. ii2ff.
Jahre I 2
18 DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
dem das Schlachtfeld für wirkliche Staaten. Hier wurde, zum
afrika und Nordamerika gehören sollten. Im Osten lagen Rußland,
Österreich und die Türkei, im Westen Spanien und Frankreich,
die sinkenden Kolonialreiche, denen die Insel England den
abgewann, den Spaniern endgültig 171 3, den
England wurde die führende Macht in diesem System, nicht nur ab
Staat, sondern auch als Stil. Es wurde sehr reich im Verhältnis zum
aufgefaßt — und setzt diesen Reichtum in Gestalt gemieteter Sol-
daten, Matrosen und ganzer Staaten an, die gegen Subsidien für die
Am Ende des Jahrhunderts hatte Spanien längst aufgehört, eine
Großmacht zu sein, und Frankreich war dazu bestimmt, ihm zu fol-
gen : beides altgewordene, verbrauchte Völker, stolz aber müde, der
Vergangenheit zugewendet, ohne den wirklichen Ehrgeiz, der von
Eitelkeit streng zu scheiden ist, eine schöpferische Rolle auch in
der Zukunft zu spielen. Wären Mirabeaus Pläne 1789 gelungen,
so wäre eine leidlich beständige konstitutionelle Monarchie entstan-
den, die sich im wesentlichen mit der Aufgabe begnügt hätte, den
Rentnergeschmack der Bourgeoisie und der Bauern zu befriedigen.
Unter dem Direktorium lag die Wahrscheinlichkeit vor, daß das
Land, resigniert und aller Ideale satt, sich mit jeder Art von Re-
gierung zufrieden gegeben hätte, welche die Ruhe nach außen und
innen gewährleistete. Da kam Napoleon, ein Italiener, der Paris zur
den Typus des letzten Franzosen, der noch ein volles Jahr*
hundert lang Frankreich als Großmacht aufrechterhalten hat:
fer, elegant, prahlerisch, roh, voller Freude am Töten, Plündern,
; dem Elan ohne Ziel, nur um seiner selbst willen, so daß
alle Siege trotz unerhörten Blutvergießens Frankreich nicht den ge-
ringsten bleibenden Vorteil gebracht haben. Nur der Ruhm gewann
dabei, nicht einmal die Ehre. Im Grunde war es ein Jakobinerideal,
das gegenüber dem girondistischen der kleinen Rentner und Spieß-
bürger nie die Mehrheit hinter sich hatte, aber stets die Macht. Mit
statt der
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
Masse, der Krieg als Aufgebot von Massen, die Schlacht als Ver-
schwendung von Menschenleben, die brutalen Friedensschlüsse, die
Diplomatie der Advokatenkniffe ohne Manieren. Aber England hatte
ganz Europa und seinen eignen ganzen Reichtum nötig, um diese
Schöpfung eines einzelnen Mannes zu vernichten, die dennoch als
Gedanke weiterlebte. Auf dem Wiener Kongreß siegte noch einmal
das 1 8. Jahrhundert über die neue Zeit. Das hieß seitdem ..kon-
servativ".
Es war nur ein scheinbarer Sieg, dessen Erfolg das ganze Jahr-
hundert hindurch beständig in Frage gestellt war. Metternich, dessen
politischer Blick — was man auch gegen seine Person sagen mag —
tiefer in die Zukunft drang als der irgendeines Staatsmannes nach
Bismarck, sah das mit unerbittlicher Klarheit: „Mein geheimster
Gedanke ist, daß das alte Europa am Anfang seines Endes ist. Ich
werde, entschlossen mit ihm unterzugehen, meine Pflicht zu tun
wissen. Das neue Europa ist anderseits noch im Werden; zwischen
Ende und Anfang wird es ein Chaos geben." Nur um dieses Chaos
solange als möglich zu verhindern, entstand das System des
Gleichgewichts der großen Mächte, beginnend mit der Heiligen
Allianz zwischen Österreich, Preußen und Rußland. Verträge
wurden geschlossen, Bündnisse gesucht, Kongresse abgehalten, um
nach Möglichkeit jede Erschütterung des politischen „Europa" zu
verhindern, das sie nicht ertragen hätte; und wenn trotzdem ein
Krieg zwischen einzelnen Mächten ausbrach, rüsteten sofort die
Neutralen, um beim Friedensschluß trotz geringer Grenzverschie-
bungen das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten: der Krimkrieg ist
ein klassisches Beispiel. Nur eine Neubildung ist erfolgt: Deutsch-
land, die persönliche Schöpfung Bismarcks, wurde eine Großmacht,
und zwar in der Mitte des Svstems der älteren. In dieser schlichten
Tatsache liegt der Keim einer Tragik, die durch nichts zu umgehen
war. Aber solange Bismarck herrschte — und er hat in Europa
geherrscht, mehr als einst Metternich — , änderte sich nichts in dessen
politischem Gesamtbild. Europa war unter sich; niemand mischte
sich in seine Angelegenheiten. Die Weltmächte waren ohne Aus-
nahme europäische Mächte. Und die Angst vor dem Ende dieses
Zustandes — ■ das, was Bismarck le cauchemar des coalitions nannte,
gehört dazu — leitete die Diplomatie aller zugehörigen Staaten.
2*
20 DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
Aber trotzdem war die Zeit schon 1878 für den ersten Wel
greifen, Frankreich und Österreich auch ; der Krieg wäre sofort nach
Asien und Afrika und vielleicht Amerika ausgedehnt worden, denn
ypten und den Suezkanal, chinesische Probleme traten her-
vor, und dahinter lag der beginnende Wettstreit Londons und New-
yorks, das die englischen Sympathien für die Südstaaten im Sezes-
heit Bismarcks schob die Entscheidung der großen Machtfragen,
die auf friedlichem Wege unmöglich war, der Zukunft zu, aber
Wettrüsten für mögliche trat, eine neue Form des Krieges im gegen-
seitigen Ubertreffen an Zahl der Soldaten, der Geschütze, der Er-
findungen, der zur Verfügung stehenden Geldsummen, die die Span-
nung seitdem längst ins Unerträgliche wachsen ließ. 1 Und eben
damals begann, vom Europa der Bismarckzeit gänzlich unbeachtet,
Japan unter Mutsuhito (1869) sich zu einer Großmacht europäi-
und die Vereinigten Staaten zogen die Folgerung aus dem
krieg von 1861 — 65, in welchem das Element der
Börsen erlegen war: der Dollar begann eine Rolle in
spielen.
Seit dem Ende de3 Jahrhunderts wird der Verfall dieses Staaten-
ner, unter denen es keinen einzigen von irgendweicher Bedeutur
mehr gibt. Sie erschöpfen sich alle in den gewohnten 3
Bündnissen und Verständigungen, vertrauen
Amtszeit auf die äußere Ruhe, welche durch die stehenden Heere
repräsentiert wurde, und denken alle an die Zukunft wie an eine
verlängerte Gegenwart. Und über alle Städte Europas und Nord-
amerikas hin hallt das Triumphgeschrei über den „Fortschritt der
Menschheit", der sich in der Länge der Eisenbahnen und Leit-
artikel, der Höhe der Fabrikschornsteine und radikalen Wahlzif-
lzerplatten und
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
1
Geldschränken täglich bewies ; ein Triumphgeschrei, das den Donner
und Havanna und selbst den der neuen japanischen Steilfeuer-
geschütze übertönte, mit denen die kleinen vom dummen Europa
verwöhnten und bewunderten gelben Männer bewiesen, auf wie
schwachen Füßen dessen technische Überlegenheit stand, und mit
denen sie das auf seine Westgrenze st
drücklich wieder an Asien erinnerten.
jetzt
„Europa" zu beschäftigen : Es stand fest, daß Österreich-1
Tod des Kaisers Franz Josef nicht oder kaum überleben werc
es fragte sich, in welchen Formen die Neuordnung dieser
Gebiete sich vollziehen und ob das ohne Krieg möglich sein werde.
Es gab außer verschiedenen, einander ausschließenden Plänen und
Tendenzen im Innern des Donaureiches die Gedanken von hoffen-
n und darüber hinaus die Erwartungen fernerer Mächte,
Konflikt wünschten, um anderswo ihren eigenen Zielen
lerzukommen. Das Staatensystcm Europas als Einheit war nun
zu Ende, und der 1878 aufgeschobene Weltkrieg drohte um der-
selben Probleme willen an derselben Stelle auszubrechen. Es
geschah 191 2.
Inzwischen begann dieses System in eine Form überzugehen, die heute
noch fortdauert und die an den Orbis terrarum der späthellenisti-
schen und römischen Jahrhunderte erinnert : in der Mitte lagen da-
mals die alten Stadtstaaten der Griechen einschließlich Roms und
Karthagos und rings umher der „Kreis der Länder", der für ihre
Entscheidungen die Heere und das Geld lieferte. 1 Aus der Erbschaft
Alexanders des Großen stammten Makedonien, Syrien und Ägypten,
aus derjenigen Karthagos Afrika und Spanien, Rom hatte Nord-
um die Frage, wer das kommende Imperium organisieren und
beherrschen sollte, wurde von Hannibal und Scipio bis auf
Antonius und Oktavian mit den Mitteln der großen Randgebiete
geführt. Und ebenso entwickelten sich die Verhältnisse 6 in den
letzten Jahrzehnten vor 1914» Eine Großmacht europäischen Stils
war ein Staat, der auf europäischem Boden einige hunderttausend
HJnt.d.Abendl. II, S. 5o6£.
22
DIE WELTKRIEGE UND
T E
Mann unter Waffen hielt und Geld und Material genug besaß,
der dahinter in fremden Erdteilen weite Randgebiete beherrschte,
die mit ihren Flottenstützpunkten, Kolonialtruppen und einer Bevöl-
kerung von Rohstoff erzeugern und Produktionsabnehmern die Unter-
lage für den Reichtum und damit die militärische Stoßkraft des
Kernlandes bildeten. Es war die gewissermaßen aktuelle Form des
englischen Empire, des französischen Westafrika und des russischen
Asien, während in Deutschland die Beschränktheit der Minister und
Parteien die jahrzehntelange Gelegenheit versäumt hatte, in Mittel-
afrika ein großes Kolonialreich zu errichten, das im Kriegsfall auch
jedenfalls die völlige Ausschließung von der See verhindert hätte.
Aus dem hastigen Streben, die noch verfügbare Welt in Interessen-
sphären aufzuteilen, ergaben sich die sehr ernsten Reibungen zwi-
schen Rußland und England in Persien und im Golf von Tschili,
zwischen England und Frankreich in Faschoda, zwischen Frank-
reich und Deutschland in Marokko, zwischen allen diesen Mächten
in China.
Überall lagen die Anlässe zu einem großen Kriege, der immer wie-
der mit sehr verschiedener Verteilung der Gegner vor dem Ausbruch
- im Faschodafalle und im russisch-japanischen Konflikt
i Rußland und Frankreich auf der einen, England und Japan
auf der anderen Seite — , bis er in einer völlig sinnlosen Form 191 4
zur Entwicklung kam. Es war eine Belagerung Deutschlands als
des „Reichs der Mitte" durch die ganze Welt, der letzte Versuch, in
alter Weise die großen fernen Fragen auf deutschem Boden auszu-
kämpfen, sinnlos dem Ziel und dem Orte nach ; er hätte sofort eine
ganz andere Gestalt, andere Ziele und einen anderen Ausgang ge-
wonnen, wenn es gelungen wäre, Rußland frühzeitig zu einem Son-
derfrieden mit Deutschland zu bringen, was notwendig den Über-
gang Rußlands auf die Seite der Mittelmächte zur Folge gehabt
haben würde. In dieser Gestalt war der Krieg ein notwendiger Miß-
erfolg, denn die großen Probleme sind heute so ungelöst als je und
konnten durch die Verbindung von natürlichen Feinden wie England
und Rußland, Japan und Amerika gar nicht gelöst werden.
DIE WELTKRIEGE
D
plomatie, deren letzter Repräsentant Bismarck gewesen war. Keiner
der jämmerlichen Staatsmänner begriff mehr die Aufgaben seines
Amtes und die geschichtliche Stellung seines Landes. Mehr als einer
hat es seitdem zugestanden, daß er ratlos und ohne sich zu wehren
in den Gang der Ereignisse hineingetrieben wurde. So ging die Tat-
sache „Europa" dumm und würdelos zu Ende.
Wer war hier Sieger, wer der Besiegte? 191 8 glaubte man es zu
wissen und Frankreich wenigstens hält krampfhaft an seiner Auf-
fassung fest, weil es den letzten Gedanken seines politischen
seins als Großmacht, die Revanche, seelisch nicht preisgeben
Aber England? Oder gar Rußland? Hat sich hier die Gescl
aus Kleists Novelle „Der Zweikampf" in
abgespielt? War „Europa" der Besiegte? Oder die Mächte der Tra-
dition? In Wirklichkeit ist eine neue Form der Welt entstanden
als Voraussetzung künftiger Entscheidungen, die mit furchtbarer
Wucht hereinbrechen werden. Rußland ist von Asien seelisch zu-
rückerobert worden, und vom englischen Empire ist es fraglich,
ob sein Schwerpunkt noch in Europa liegt. Der Rest ..Europas"
befindet sich zwischen Asien und Amerika — zwischen Rußland
und Japan im Osten und Nordamerika und den englischen Domi-
nions im Westen — und besteht heute im Grunde nur noch aus
Deutschland, das seinen alten Rang als Grenzmacht gegen „Asien"
wieder einnimmt, aus Italien, das eine Macht ist, solange Mussolini
lebt, und vielleicht im Mittelmeer die größere Basis einer wirklichen
Weltmacht gewinnen wird, und Frankreich, das sich noch einmal
als Herrn von Europa betrachtet und zu dessen politischen Ein-
richtungen der Genfer Völkerbund und die Gruppe der Südost-
staaten gehören. Aber alles das sind vielleicht oder wahrscheinlich
flüchtige Erscheinungen. Die Verwandlung der politischen Formen
der
einigen Jahrzehnten die
rikas aussehen wird.
Was Metternich unter dem Chaos verstand, das er durch seine ent-
sagungsvolle, unschöpferische, nur auf die
DIE WELTKRIEGE UND WELTMACHTE
den gerichtete Tätigkeit solange als
von Europa fernhalten
Gleichgewicht der Mächte als
Staatshoheit seihst in den einzelnen Ländern, die uns seitdem
seihst als Begriff so gut wie verloren gegangen ist. Was wir heute als
„Ordnung" anerkennen und in „liberalen" Verfassungen festlegen,
ist nichts als eine zur Gewohnheit gewordene Anarchie. Wir
nennen das Demokratie, Parlamentarismus, Selbstregierung des Vol-
Verantwortung bewußten
eines wirklichen Staates.
Geschichte politischer Mächte. Die Form dieser Geschichte ist der
Krieg. Auch der Friede gehört dazu. Er ist die Fortsetzung des
Krieges mit andern Mitteln: der Versuch des Besiegten, die Folgen
des Krieges in der Form von Verträgen abzuschütteln, der Versuch
des Siegers, sie festzuhalten. Ein Staat ist das „In Form sein" 1
einer durch ihn gebildeten und dargestellten völkischen Einheit für
sie als solche schon den Wert eines siegreichen Krieges, der ohne
Waffen, nur durch das Gewicht der verfügungsbereiten Macht ge-
wonnen wird. Ist sie schwach, so kommt sie einer beständigen Nie-
derlage in den Beziehungen zu anderen Mächten gleich. Staaten sind
rein politische Einheiten, Einheiten der nach außen wirkenden
Macht. Sie sind nicht an Einheiten der Rasse, Sprache oder Reli-
solchen Einheiten decken oder kreuzen, so wird ihre Kraft infolge
des inneren Widerspruches in der Regel geringer, nie größer.
arn. Wo sie andere, eigene Ziele
fall, das Außer-Form-geraten des Staates.
Zum „In Form sein" einer Macht als Staat unter Staaten gehört
aber vor allem die Stärke und Einheit der Führung, des Regierens»
der Autorität, ohne welche der Staat tatsächlich nicht vorhanden ist.
Staat und Regierung sind dieselbe Form, als Dasein oder als Tätig
Unt. d. Abendl. II, S. 444ff.
DIE WELTKRIEGE UND WELT MÄCHTE
25
durch die dynastische, höfische, gesellschaftliche Tradition streng
bestimmt und in weitem Maße mit ihr identisch war. Das Zere-
moniell, der Takt der guten Gesellschaft, die vornehmen Manieren
des Handelns und Verhandeins sind nur ein sichtbarer Ausdruck
davon. Auch England war ,,in Form": die Insellage ersetzte wesent-
liche Züge des Staates und im regierenden Parlament war eine
durchaus aristokratische, sehr wirksame Form, die Geschäfte zu be-
handeln, durch alten Brauch festgelegt. Frankreich geriet in eine
Revolution, nicht weil „das Volk" sich gegen den Absolutismus auf-
lehnte, der hier gar nicht mehr vorhanden war, nicht wegen des
Elends und der Verschuldung des Landes, die anderswo viel größer
waren, sondern weil die Autorität in Auflösung begriffen war.
Alle Revolutionen gehen vom Verfall der Staatshoheit aus.
Ein Aufstand der Gasse kann diese Wirkung gar nicht haben. Er
folgt nur daraus. Eine moderne Republik ist nichts als die Ruine
einer Monarchie, die sich selbst aufgegeben hat.
Mit dem ig. Jahrhundert gehen die Mächte aus der Form des dy-
nastischen Staates in die des Nationalstaates über. Aber was
Im großen und ganzen deckten sie sich auch mit den Machtgebieten
der großen Dynastien. Diese Nationen waren Ideen, in dem Sinne
wie Goethe von der Idee seines Daseins spricht: die innere Form
eines bedeutenden Lebens, die unbewußt und unvermerkt sich in
jeder Tat, in jedem Wort verwirklicht. „La naiiori' im Sinne von
1789 war aber ein rationalistisches und romantisches Ideal,
ein Wunschbild von ausdrücklich politischer, um nicht zu sagen
sozialer Tendenz. Das kann in dieser flachen Zeit niemand mehr
unterscheiden. Ein Ideal ist ein Ergebnis des Nachdenkens, ein
Begriff oder Satz, der formuliert sein muß, um das Ideal zu
„haben". Infolgedessen wird es nach kurzer Zeit zum Schlagwort,
das man gebraucht, ohne sich noch etwas dabei zu denken. Ideen da-
en sind wortlos. Sie kommen ihren Trägern selten oder gar
müssen im Bilde des Geschehens gefühlt, in ihren
en beschrieben werden. Definieren lassen sie
26
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
über das einzelne Leben hinaus schicksalhaft in eine Richtung
srtums,
e Idee des Strebens ins Unendliche.
Die wirklichen Nationen sind Ideen, auch heute noch. Was aber
der Nationalismus seit 1789 meint, wird schon dadurch gekenn-
zeichnet, daß er die Muttersprache mit der Schriftsprache der gro-
ßen Städte verwechselt, in der jeder lesen und schreiben lernt, mit
der Sprache also der Zeitungen und Flugblätter, durch die jeder
über das „Recht" der Nation und ihre notwendige Befreiung von
irgend etwas aufgeklärt wird. Wirkliche Nationen sind, wie jeder
lebendige Körper, von reicher innerer Gliederung; sie sind durch
ihr bloßes Dasein schon eine Art von Ordnung. Der politische Ra-
tionalismus versteht aber unter „Nation" die Freiheit von, den
Kampf gegen jede Ordnung. Nation ist ihm gleich Masse, formlos
und ohne Aufbau, herrenlos und ziellos. Das nennt er Souverän i-
Denken und Fühlen des Bauerntums, er verachtet Sitte und Brauch
des echten Volkslebens, zu denen auch, und zwar ganz besonders,
furcht vor der Autorität gehört. Er kennt keine Ehrfurcht,
int nur Prinzipien, die aus Theorien stammen. Vor allem das
plebejische der Gleichheit, das heißt den Ersatz der verhaßten Qua-
lität durch die Quantität, der beneideten Begabung durch die Zahl.
ist revolutionär und städtisch durch und durch.
Am verhängnisvollsten ist das Ideal der Regierur
des Volkes
so wenig eine Armee sich selber führen kann. Es muß regiert wer-
den und es will das auch, solange es gesunde Instinkte besitzt.
Aber es ist etwas ganz anderes gemeint: der Begriff der Volks-
vertretung spielt in jeder solchen Bewegung sofort die erste Rolle.
Da kommen die Leute, die sich selbst zu „Vertretern" des Volkes
ernennen und als solche empfehlen. Sie wollen gar nicht „dem
Volke dienen"; sich des Volkes bedienen wollen sie, zu eige-
nen, mehr oder weniger schmutzigen Zwecken, unter denen die Be-
friedigung der Eitelkeit der harmloseste ist. Sie bekämpfen die
Mächte der Tradition, um sich an ihre Stelle zu
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
27
dert. Sie bekämpfen jede Art von Autorität, weil sie niemandem
Wege gehen. Keine Verfassung enthält eine Instanz, vor welcher
die Parteien sich zu rechtfertigen hätten. Sie bekämpfen vor allem
die langsam herangewachsene und gereifte Kulturform des Staates,
weil sie sie nicht in sich haben wie die gute Gesellschaft, die society
des 18. Jahrhunderts, und sie deshalb als Zwang empfinden, was
sie für Kulturmenschen nicht ist. So entsteht die „Demokratie"
des Jahrhunderts, keine Form, sondern die Formlosigkeit in je
Sinne als Prinzip, der Parlamentarismus als verfassungsma
Anarchie, die Republik als Verneinung jeder Art von Autorität.
So gerieten die europäischen Staaten außer Form, je
lieh er" sie regiert wurden. Das war das Chaos, das Metternich be-
wog, die Demokratie ohne Unterschied der Richtung zu bekämpfen
— die romantische der Befreiungskriege wie die rationalistische der
Bastillestürmer, die sich dann 18^8 vereinigten — und allen Refor-
men gegenüber gleich konservativ zu sein. In allen Ländern bil-
deten sich seitdem Parteien, das heißt neben einzelnen Idealisten
von Geschäftspolitikern zweifelhafter Herkunft und mehr
zweifelhafter Moral: Journalisten, Advokaten, Börsianer, Lite-
raten, Parteifunktionäre. Sie regierten, indem sie ihre Interessen
vertraten. Monarchen und Minister waren stets irgendwem ver-
antwortlich gewesen, zum mindesten der öffentlichen Meinung. Nur
diese Gruppen waren niemand Rechenschaft schuldig. Die Presse,
entstanden als Organ der öffentlichen Meinung, diente längst dem,
der sie bezahlte ; die Wahlen, einst Ausdruck dieser Meinung, führ-
ten die Partei zum Siege, hinter der die stärksten Geldgeber standen.
Wenn es trotzdem noch eine Art von staatlicher Ordnung, von ge-
wissenhaftem Regieren, von Autorität gab, so waren es die Reste
der Form des 18. Jahrhunderts, die sich in Gestalt der wenn
auch noch so konstitutionellen Monarchie, des Offizierkorps, der
Parlaments, vor allem des Oberhauses, und seiner zwei Parteien
erhalten hatten. Ihnen verdankt man alles, was an staatlichen
Leistungen trotz der Parlamente zustande kam. Hätte Bismarck sich
nicht auf seinen König stützen können, so wäre er sofort
1. Der politische Dilettantismus, dessen
28
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
melplatz die Parlamente waren, betrachtete diese Mächte der
Tradition denn auch mit Mißtrauen und Haß. Er bekämpfte sie
grundsätzlich und hemmungslos ohne Rücksicht auf die äußeren
Folgen. So wird die Innenpolitik überall ein Gebiet, das weit über
seine eigentliche Bedeutung hinaus die Tätigkeit aller erfahrenen
Staatsmänner notgedrungen an sich zog, ihre Zeit und Kraft ver-
geudete, und über dem man den ursprünglichen Sinn der Staats-
leitung, die Führung der Außenpolitik, vergaß und vergessen
wollte. Das ist der
Demokratie bezeichnet wird und der von der
chischen Staatshoheit durch den politischen,
lismus zum Cäsarismus der Zukunft hinüberführt, der
diktatorischen Tendenzen sich leise zu melden
ist, das Trümmerfeld geschichtlicher Traditionen
beherrschen.
Zu den ernsthaftesten Zeichen des Verfalls der Staatshoheit ge-
hört die Tatsache, daß im Lauf des 19. Jahrhunderts der Eindruck
herrschend geworden ist, die Wirtschaft sei wichtiger als die Poli-
tik. Unter den Leuten, die heute irgendwie den Entscheidungen nahe
stehen, gibt es kaum einen, der das entschieden ablehnt. Man
betrachtet die politische Macht nicht etwa nur als ein Element des
öffentlichen Lebens, dessen erste, wenn nicht einzige Aufgabe es
ist, der Wirtschaft zu dienen, sondern es wird erwartet, daß sie
sich den Wünschen und Ansichten der Wirtschaft vollkommen
füge, und zuletzt, daß sie von den Wirtschaftsführern komman-
diert werde. Das ist denn auch in weitem Umfang geschehen, mit
welchem Erfolg, lehrt die Geschichte dieser Zeit.
In Wirklichkeit lassen sich Politik und Wirtschaft im Leben der
Völker nicht trennen. Sie sind, wie ich immer wiederholen muß,
zwei Seiten desselben Lebens, aber sie verhalten sich wie die Füh-
ist der Kapitän die erste Person, nicht der Kaufherr, dem die La-
dung gehört. Wenn heute der Eindruck vorherrscht, daß die Wirt-
»ere Element ist, so liegt das daran, daß
le fünruna der
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
und die Bezeichnung einer wirkliehen Führung kaum noch verdient,
und daß deshalb die wirtschaftliche höher zu ragen scheint. Aber
wenn nach einem Erdbeben ein Haus zwischen Trümmern stehen
geblieben ist, so ist es deshalb nicht das wichtigste gewesen. In der
Geschichte, solange sie „in Form" verläuft und nicht tumultuarisch
und revolutionär, ist der Wirtschaftsführer niemals Herr der Ent-
scheidungen gewesen. Er fügte sich den politischen Erwägungen ein,
er diente ihnen mit den Mitteln, die er in Händen hatte. Ohne eine
gegeben, obwohl die materialistische Theorie das Gegenteil lehrt. Adam
Smith, ihr Begründer, hatte das wirtschaftliche Leben als das eigent-
liche menschliche Leben behandelt, das Geldmachen als den Sinn
der Geschichte, und er pflegte die Staatsmänner als schädliche Tiere
zu bezeichnen. Aber gerade in England waren es nicht Kaufleute
und Fabrikbesitzer, sondern echte Politiker wie die beiden Pitt, die
durch eine großartige Außenpolitik, oft unter leidenschaftlichstem
Widerspruch der kurzsichtigen Wirtschaftsleute, die englische Wirt-
schaft zur ersten der Welt gemacht haben. Reine Staatsmänner
waren es, welche den Kampf gegen Napoleon bis an die Grenzen
des finanziellen Zusammenbruchs führten, weil sie weiter sahen
als bis zur Bilanz des nächsten Jahres, wie es jetzt üblich ist. Aber
heute besteht die Tatsache, daß infolge der Belanglosigkeit der lei-
tenden Staatsmänner, die zum großen Teil selbst an Privatgeschäften
interessiert sind, die Wirtschaft maßgebend in die Entscheidungen
hineinredet, aber nun auch die Wirtschaft in ihrem vollen Um-
fang: nicht nur die Banken und Konzerne, mit oder ohne partei-
rung und Arbeitsverkürzung, die sich Arbeiterparteien nennen. Das
letzte ist die notwendige Folge des ersten. Darin liegt die Tragik
jeder Wirtschaft, die sich selbst politisch sichern will. Auch das
begann 1789, mit den Girondisten, welche die Geschäfte des wohl-
habenden Bürgertums zum Sinn des Vorhandenseins staatlicher Ge-
walten machen wollten, was nachher unter Louis Philipp, dem
weit
role: „Enrichis$ez~vous" wird zur politischen Moral. Sie wurde zu
gut verstanden und befolgt, nämlich nicht nur von Handel und
Politikern selbst, sondern auch von
30
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
der Lohnarbeiter, welche nun — i848 — die Vorteile des Verfalls
Revolution des ganzen Jahrhunderts, die man Demokratie
nennt und die in Revolten der Masse durch Wahlzettel oder Barri-
kaden, der „Volksvertreter" durch parlamentarische Ministerstürze
und Budgetverweigerungen dem Staat gegenüber in periodische Er-
scheinungtritt, eine wirtschaftliche Tendenz. Auch in England, wo die
Freihandelslehre des Manchestertums von den Trade Unions auch auf
und Engels dann im Kommunistischen Manifest theoretisch aus-
gestaltet haben. Damit vollendet sich die Absetzung der Politik durch
die Wirtschaft, des Staates durch das Kontor, des Diplomaten durch
den Gewerkschaftsführer: hier und nicht in den Folgen des Welt-
krieges liegen die Keime für die Wirtschaftskatastrophe der Gegen-
wart. Sie ist in ihrer ganzen Schwere nichts als eine Folge
Die geschichtliche Erfahrung hätte das Jahrhundert warnen sollen.
Niemals haben wirtschaftliche Unternehmungen ohne Deckung durch
litisch denkende Staatsleitung ihr Ziel wirklich er-
Es ist falsch, wenn man die Raubfahrten der Wikinger, mit
denen die Seeherrschaft der abendländischen Völkerweit beginnt,
so beurteilt. Ihr Ziel war selbstverständlich das Beutemachen — ob
Aber das Schiff war ein Staat für sich, und der Plan der Fahrt,
der Oberbefehl, die Taktik waren echte Politik. Wo aus dem Schiff
eine Flotte wurde, kam es sofort zu Staatsgründungen, und zwar mit
sehr ausgesprochenen Hoheitsregierungen wie in der Normandie, in
England und Sizilien. Die deutsche Hansa wäre eine wirtschaftliche
lacht geblieben, wenn Deutschland selbst es politisch ge-
politisch zu sichern niemand als Aufgabe eines deutschen Staates
empfand, schied Deutschland aus den großen weltwirtschaftlichen
Kombinationen des Abendlandes aus. Es wuchs erst im 19. Jahr-
hundert wieder in sie hinein, nicht durch private Bestrebungen,
sondern einzig und allein durch die politische Schöpfung Bis-
marcks, welche die Voraussetzung für den imperialistischen Auf-
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
31
Der maritime Imperialismus, der Ausdruck für das faustische Stre-
ben ins Unendliche, begann große Formen anzunehmen, als mit der
wege nach Asien politisch gesperrt wurden. Das ist der tiefere
Anlaß für die Entdeckung des Seewegs nach Ostindien durch die
Portugiesen und die Entdeckung Amerikas durch die Spanier, hinter
denen Großmächte der Zeit standen. Die treibenden Motive im ein-
zelnen waren Ehrgeiz, Abenteurerlust, Freude an Kampf und Ge-
fahr, Hunger nach Gold und nicht etwa „gute Geschäfte". Die ent-
deckten Länder sollten erobert und beherrscht werden; sie sollten
die Macht der Habsburger in den europäischen Kombinationen stär-
ken. Das Reich, in dem die Sonne nicht unterging, war ein poli-
erst insofern ein Feld für wirtschaftliche Erfolge. Es wurde nicht
anders, als England den Vorrang gewann, nicht durch seine wirt-
schaftliche Stärke, die zunächst gar nicht vorhanden war, sondern
durch das kluge Regiment des Adels, seien es nun Tories oder
Whigs. Durch Schlachten ist England reich geworden, nicht durch
Ruchführung und Spekulation. Deshalb ist das englische Volk, so
von Europa gewesen: konservativ im Sinne der Erhaltung aller
Machtformen der Vergangenheit bis auf die geringsten zeremoniel-
len Einzelheiten, mochte man auch darüber lächeln, sie zuweilen
verachten ; solange keine stärkere neue Form zu sehen war, behielt man
die alten alle : die beiden Parteien, die Art, wie die Regierung in ihren
Entscheidungen sich vom Parlament unabhängig erhielt, Oberhaus
und Königtum als retardierende Momente in kritischen Lagen.
Dieser Instinkt hat England immer wieder gerettet, und wenn er
heute erlischt, so bedeutet das nicht nur den Verlust der politischen,
rand, Metternich, Wellington verstanden nichts von der W'irtschaft.
Das war sicherlich ein Einwand. Aber es wäre schlimmer gewesen,
wenn an ihrer Stelle ein wirtschaftlicher Fachmann versucht hätte,
Politik zu machen. Erst als der Imperialismus in die Hände wirt-
schaftlicher, materialistischer Geschäftemacher gerät, als er aufhört,
macht politisch zu sein, sinkt er von den Interessen der wirtschaft-
lichen Fi
32 DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
fes der ausführenden Arbeit herab, und so zersetzen sich die großen
Der folgenreichste Ausdruck der „nationalen" Revolution seit 1789
sind die stehenden Heere des 19. Jahrhunderts gewesen. Die Berufs-
heere der dynastischen Staaten wurden durch Massenheere auf
Grunde ein Jakobinerideal : die levee en masse von 1792 entsprach
der Nation als Masse, die an Stelle der alten, gewachsenen, stän-
gegiie
werden sollte. Daß dann in den Sturmangriffen dieser uniformierten
Massen etwas ganz anderes zum Vorschein kam, eine prachtvolle,
barbarische, gänzlich untheoretische Freude an Gefahr, Herrschaft
und Sieg, der Rest von gesunder Rasse, das was noch von nordi-
schem Heldentum in diesen Völkern lebte, war eine Erfahrung, welche
die Schwärmer für „Menschenrechte" sehr bald machten. Das Blut
rung für das Ideal des „Volkes in Waffen" hatte ein ganz anderes,
, rationalistischeres Ziel gehabt als die Entfesselung dieser
auch in Deutschland in und vor allem nach den
treiungskriegen, wo sie zu den Revolutionen von i83o und i848
hinüberleitete. Diese Heere, „in denen es keinen Unterschied von
hoch und niedrig, reich und arm gab", sollten ein Abbild der künf-
und der Begabung irgendwie aufgehoben waren. Das war der stille
Gedanke vieler Freiwilligen von 181 3, aber ebenso des literarischen
Jungen Deutschland (Heine, Herwegh, Freiligrath) und vieler
Männer der Paulskirche (wie Unland). Das Prinzip der anorgani-
Gleichheit war ihnen das Entscheidende. Die Leute vom
der Jahn und Arndt ahnten nicht, daß es die Gleichheit
war, die zum ersten Mal bei den Septembermorden von 1792
den Ruf Vive la nation ertönen ließ.
Man vergaß eine grundlegende Tatsache : In der Romantik der Volks-
DIE W ELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
33
Heere, ihr Geist, ihre Zucht, ihre Durchbildung hingen von Eigen-
schaften des Offizierkorps ab, und dessen „In Form sein" be-
ruhte ganz auf den Traditionen des 18. Jahrhunderts. Sittlich taugt
auch bei den Jakobinern eine Truppe soviel wie der Offizier, der
sie durch sein Vorbild erzogen hat. Napoleon bekannte auf St. He-
lena, daß er nicht besiegt worden wäre, wenn er zu dem prachtvollen
Soldatenmaterial seiner Heere ein Offizierkorps wie das öster-
reichische gehabt hätte, in dem die ritterlichen Überlieferungen von
Treue, Ehre und schweigender selbstloser Disziplin noch lebendig
waren. Wankt diese Führerschaft in ihrer Gesinnung und Haltung
oder gibt sie sich selbst auf wie 191 8, so ist aus einem tapferen
Regiment im Augenblick eine feige und hilflose Herde geworden.
Es wäre bei der raschen Zersetzung der Macht f ormen in Europa
ein Wunder gewesen, wenn dieses Machtmittel ihr standgehalten
hätte. Und trotzdem war es so. Die großen Heere sind das konser-
vativste Element des 19. Jahrhunderts gewesen. Sie und nicht die
schwachgewordene Monarchie, der Adel oder gar die Kirche hielten
die Form der staatlichen Autorität aufrecht und lehensfähig gegen
die anarchischen Tendenzen des Liberalismus. „Was aus dem
Schutte sich herausbilden wird, dies kann heute niemand wissen.
Ein Element der Kraft hat sich nicht allein in Österreich, sondern
im gesamten so hart gedrängten Europa erhoben, dieses Element
heißt: die stehenden Heere. Leider ist dieses Element nur ein er-
haltendes und kein schaffendes, und auf das Schaffen kommt es
eben an", schrieb Metternich 1849. 1 Und zwar beruhte das aus-
schließlich auf den strengen Anschauungen der Offizierkorps, zu
welchen die Mannschaft herangebildet worden war. Wo es i848
und später zu örtlichen Meutereien und Aufständen kam, lag die
Schuld immer an der sittlichen Minderwertigkeit der Offiziere.
Politisierende Generale, die aus ihrem militärischen Rang die Be-
fähigung und das Recht zu staatsmännischen Urteilen ableiteten
und danach zu handein versuchten, hat es immer gegeben, in Spa-
nien und Frankreich wie in Preußen und Österreich, aber das Offi-
zierkorps als Ganzes verbot sich überall eine eigene politische Mei-
nung. Nur die Heere, nicht die Kronen hielten i83o, i848,
1870 stand.
1 An Hartig, 3o. März. Ebenso Bismarck, Gedanken und Erinnerungen I, S. 63.
I 3
34
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
Sie haben seit 1870 auch den Krieg verhindert, weil niemand mehr
diese ungeheure Macht in Bewegung zu setzen wagte aus Furcht
vor der unberechenbaren Wirkung, und damit haben sie den anor-
malen Friedenszustand von 1870 bis 191 4 heraufgeführt, der es
uns heute fast unmöglich macht, die Lage der Dinge richtig zu
beurteilen. 1 An die Steile unmittelbarer Kriege trat nun der mittel-
bare in Gestalt einer ständigen Erhöhung der Kriegsbereitschaft,
des Tempo der Rüstungen und technischen Erfindungen, ein Krieg,
in dem es ebenfalls Siege, Niederlagen und kurzlebende Friedens-
schlüsse gab. 2 Diese Art von verschleierter Kriegführung setzt aber
einen nationalen Reichtum voraus, wie ihn nur die Länder mit
aus dieser Industrie selbst, sofern sie ein Kapital darstellte — und
diese hatte zur Voraussetzung das Vorhandensein von Kohle, auf
deren Vorkommen die Industrien aufgebaut wurden. 3 Zum Krieg-
So wurde die industrielle Großwirtschaft selbst zur Waffe; je lei-
stungsfähiger sie war, desto entschiedener sicherte sie von vornherein
•eitschaft. Die Aussicht auf erfolgreiche Operationen wurde
mehr und mehr abhängig von der Möglichkeit unumschränkten Ma-
terialverbrauchs, vor allem an Munition. Man wurde sich dieser
Tatsache nur sehr langsam bewußt. Bismarck legte bei den Frie-
densverhandlungen von 1871 noch allein Wert auf strategische
Punkte wie Metz und Beifort und gar keinen auf das lothringische
Erzrevier. Als man dann aber das ganze Verhältnis zwischen Wirt-
schaft und Krieg, zwischen Kohle und Kanonen erkannt hatte, wie
nun bestand, kehrte es sich um: Die starke Wirtschaft war die
ührung geworden; sie for-
nun begannen in steigendem
Maße die Kanonen der Kohle zu dienen. 4 Der Verfall des Staats-
gedankens infolge des um sich greifenden Parlamentarismus trat
derte dafür die erste Beachtung
1 Siehe S. 10,
2 Unt. d. Abendl. II, S. 534. Polit. Schriften S. i32.
s Polit. Schriften S.329ff.
4 Polit. Schriften S. 33o.
den der Außenpolitik mitzubestimmen. Die Kolonial- und Übersee-
der Industrie, darunter in steigendem Maße um die Ölvorkommen.
Denn das Erdöl begann die Kohle zu bekämpfen, zu verdrängen.
Ohne die Ölmotoren wären Automobile, Flugzeuge und Untersee-
boote unmöglich gewesen.
In derselben Richtung verwandelte sich die Bereitschaft für den
Seekrieg. 1 Noch zu Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges waren
armierte Handelsschiffe den gleichzeitigen Kriegsschiffen nahezu
ebenbürtig. Drei Jahre später waren Panzerschiffe der seebeherr-
Tempo der Konstruktion immer größerer und stärkerer Typen, von
denen jeder nach ein paar Jahren veraltet war, die schwimmenden
Festungen der Jahrhundertwende, ungeheure Maschinen, die infolge
ihres Kohlebedarfs von Stützpunkten an der Küste immer abhängiger
wurden. Der alte Wettkampf um den Vorrang von Meer oder Land
begann sich in bestimmtem Sinne wieder dem Lande zuzuneigen:
Wer die Flottenstützpunkte mit ihren Docks und Materialreserven
hatte, beherrschte das Meer, ohne Rücksicht auf die Stärke der
Flotte. Das Rule Britannia beruhte zuletzt auf dem Reichtum Eng-
lands an Kolonien, die um der Schiffe willen da waren, nicht um-
gekehrt. Das war nunmehr die Bedeutung von Gibraltar, Malta.
Aden, Singapore, den Bermudas und zahlreichen ähnlichen strate-
gischen Stützpunkten. Man verlor den Sinn des Krieges, die Ent-
scheidungsschlacht zur See, aus den Augen. Man suchte die feind-
liche Flotte wirkungslos zu machen, indem man sie von den Küsten
ausschloß. Es hat zur See nie etwas gegeben, das den Operations-
plänen der Generalstäbe entsprach, und es ist nie eine Ent-
scheidung mit diesen Schlachtschiffgeschwadern wirklich durch-
gekämpft worden. Der theoretische Streit über den Wert der Dread-
noughts nach dem russisch- japanischen Kriege beruhte gerade dar-
auf, daß Japan den Typ gebaut, aber nicht erprobt hatte. Auch im
Weltkrieg lagen die Schlachtschiffe still in den Häfen. Sie hätten
gar nicht zu existieren brauchen. Auch die Schlacht am Skagerrak war
nur ein Überfall, das Angebot einer Schlacht, der sich die eng-
i Unt. d. Abendl. II, S. 5a4. Polit. Schriften S. i34ff., i^fi.
3*
politik wird zum Kampf um
36 DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
liscbe Flotte so gut als möglich entzog. Fast alle große» Schiffe,
worden sind, haben nie einen Schuß auf einen ebenbürtigen Gegner
abgegeben. Und heute macht die Entwicklung der Luftwaffe es
fraglich, ob die Zeit der Panzerschiffe nicht überhaupt zu Ende ist.
Vielleicht bleibt nur der Kaperkrieg übrig.
Verlauf des Weltkrieges tritt auf dem festen Lande eine voll-
imene Wandlung ein. Die nationalen Massenheere, bis an die
Frenze ihrer Möglichkeiten entwickelt, eine Waffe, die
im Gegensatz zur Schlachtflotte wirklich „erschöpft" wurde, endeten
im Schützengraben, in dem die Belagerung Deutschlands mit Stür-
Quantität siegte über die Qualität, die Mechanik über das Leben. Die
große Zahl machte der Geschwindigkeit derjenigen Art ein Ende, die
Napoleon in die Taktik eingeführt hatte, am deutlichsten im Feldzug
von i8o5, der in ein paar Wochen über Ulm nach Austerlitz führte,
und die von den Amerikanern 1861 — 65 durch die Verwendung
"der Eisenbahnen noch weiter gesteigert wurde. Ohne die Bahnen,
welche Deutschland die
und West möglich machten, wäre auch
und Dauer nach unmöglich gewesen.
Es gibt in der Weltgeschichte zwei ganz große Umwälzungen in
der Kriegführung durch plötzliche Steigerung der Beweglichkeit.
Die eine fand in den ersten Jahrhunderten seit 1000 v. Chr. statt,
als irgendwo in den weiten Ebenen zwischen Donau und Amur das
Reitpferd aufkam. Die berittenen Heere waren dem Fußvolk 1 weit
überlegen. Sie konnten auftauchen und verschwinden, ohne daß
ein Angriff auf sie und eine Verfolgung möglich waren.
Fußvolk eine Reiterei auf : sie war durch jenes an
Bewegung verhindert. Und ebenso vergebens wird das römische
die nur in der Schlacht und nicht auf dem, !
etwa ein Jahrtausend älter, in demselben Gebiet entstanden
und haben überall, wo sie auftauchten, eine ungeheuere Überlegenheit über die damalige
Kampf weise im Felde bewiesen, in China und Indien etwa seit i5oo, in Vorderaaien schon
etwas früher, in der hellenischen Welt etwa seit 1600. Sie wurden bald allgemein rer-
wendet und verschwanden, ab die Reiterei, wenn auch nur ab Spezialwaffe neben dem
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
37
das chinesische Imperium mit Wall und Graben umgeben, von
denen die chinesische Mauer heute noch halb Asien durchquert und
der römische Limes in der syrisch-arabischen Wüste eben jetzt
wieder aufgefunden worden ist. Es war nicht möglich, hinter diesen
Wällen die Sammlung der Heere so schnell durchzuführen, wie es
die überraschenden Angriffe forderten: den Parthern, Hunnen,
Skythen, Mongolen, Türken sind die chinesische, indische, römische,
arabische und abendländische Weit mit ihrer seßhaften Bauern-
daß Bauerntum und Reiterleben sich seelisch nicht vertragen,
die Scharen Dschingiskhans verdanken ihre Siege der
Geschwindigkeit.
des durch die „Pferdekraft" der faustischen Technik. Bis in den
ersten Weitkrieg hinein waren gerade die alten berühmten Kaval-
lerieregimenter Westeuropas von ritterlichem Stolz, Abenteurer lust
und Heldentum umwittert, mehr als jede andere Waffe. Sie waren
Jahrhunderte hindurch die eigentlichen Wikinger des Landes. Sie
stellten mehr und mehr den echten innerlichen Soidatenberuf , das
Soldatenleben dar, weit mehr als die Infanterie der allgemeinen
Wehrpflicht. In Zukunft wird das anders sein. Die Flugzeuge und
Tankgeschwader lösen sie ab. Die Beweglichkeit wird damit über
aber sozusagen der individuellen Maschine,
im Gegensatz zum unpersönlichen Trommelfeuer der Schützen-
gräben dem persönlichen Heldentum wieder große Aufgaben stellt.
Aber viel tiefer als diese Entscheidung zwischen Masse und Beweg-
lichkeit greift eine andere Tatsache in das Schicksal der stehenden
Heere ein und sie* wird dem Grundsatz der allgemeinen nationalen
Der Verfall der Autorität, der Ersatz des Staates durch die Partei,
die fortschreitende Anarchie also hatte bis 191 4 vor dem Heere
haltgemacht. Solange ein bleibendes Offizierkorps eine rasch
wechselnde Mannschaft erzog, blieben die ethischen Werte der
Waffenehre, Treue und des schweigenden Gehorsams, der Geist
Friedrichs des Großen, Napoleons, Wellingtons, also des 1 8. Jahr-
28 DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
ment der Stabilität. Erschüttert wurde es zuerst, als im Stellungs-
krieg rasch ausgebildete junge Offiziere älteren, jahrelang im Felde
stehenden Mannschaften gegenüberstanden. Auch hier hat der lange
Friede von 1870 bis 191 4 eine Entwicklung aufgehalten, die mit
dem fortschreitenden Verfall des „In Form seins" der Nationen ein-
treten mußte. Die Mannschaft einschließlich der unteren Schichten
des Offizierkorps, welche die Welt von unten sahen, weil sie Führer
nicht aus innerem Beruf, sondern infolge vorübergehender Ver-
wendung waren, bekamen eine eigene Meinung über politische Mög-
lichkeiten, die, wie sich versteht, von außen, vom Feinde oder den
radikalen Parteien des eigenen Landes durch Propaganda und Zer-
setzungszellen importiert wurde, einschließlich des Nachdenkens
über die Durchsetzung dieser Meinung. Damit ist das Element der
Anarchie in das Heer geraten, das sie bis dahin allein fernzuhalten
wußte. Und das setzte sich nach dem Kriege überall in den Kasernen
der stehenden Friedensheere fort. Dazu kommt, daß vierzig Jahre
lang der einfache Mann aus dem Volke ebenso wie der Berufspoli-
tiker und radikale Parteiführer die unbekannte Wirkung moderner
Heere fürchtete und überschätzte, gegen fremde Heere wie gegen
Aufstände, und den Widerstand gegen sie deshalb als praktische Mög-
lichkeit kaum noch in Betracht zog. 1 Die sozialdemokratischen Par-
teien hatten überall vor dem Kriege den Gedanken an eine Revolution
längst aufgegeben und behielten nur die Phrase in ihren Program-
men bei. Eine Kompanie genügte, um Tausende aufgeregter Zivi-
listen in Schach zu halten. Nun bewies aber der Krieg, wie gering
die Wirkung selbst einer starken Truppe mit schwerer Artillerie
gegenüber unseren steinernen Städten ist, wenn sie Haus für Haus
verteidigt werden. Die reguläre Armee verlor den Nimbus der Un-
besiegbarkeit in Revolutionen. Heute denkt jeder zwangsweise ein-
gezogene Rekrut ganz anders darüber als vor dem Kriege. Und da-
mit hat er das Bewußtsein verloren, bloßes Objekt der befehls-
habenden Gewalt zu sein. Es ist mir sehr zweifelhaft, ob zum Bei-
spiel in Frankreich eine allgemeine Mobilmachung gegen einen ge-
fährlichen Feind überhaupt durchzuführen ist. Was soll geschehen,
wenn sich die Massen
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE 39
wie weit in ihr die moralische Zersetzung fortgeschritten ist und
auf welchen Bruchteil von Leuten man wirklich zählen darf? Das
Begeisterung für den Krieg zum Ausgangspunkt hatte, und der An-
ailen Kulturen; man denke an den Ersatz des ausgehobenen römi-
schen Bauernheeres durch besoldete Beruf sheere seit Marius und an
die Folgen — der Weg zum Cäsarismus und in der Tiefe der in-
stinktive Aufstand des Blutes, der unverbrauchten Rasse, des pri-
mitiven Willens zur Macht gegen die materialistischen Mächte des
Geldes und Geistes, der anarchistischen Theorien und der sie aus-
nützenden Spekulation, von der Demokratie bis zur Plutokratie. 1
Diese materialistischen und plebejischen Mächte haben seit dem
Ende des 1 8. Jahrhunderts folgerichtig zu ganz anderen Kriegsmit-
teln gegriffen, die ihrem Denken und ihrer Erfahrung näher lagen.
Neben den Heeren und Flotten, die in steigendem Maße für Zwecke
angesetzt wurden, welche den Nationen selbst ganz fernlagen und
lediglich den geschäftlichen Interessen einzelner Gruppen ent-
dem echten Soldaten, Moltke etwa, verachtet und in ihrer Wirksam-
keit sicherlich unterschätzt. Um so besser wußten die „modernen"
Staatsmänner sie zu schätzen, die ihrer Herkunft und Veranlagung
nach zuerst wirtschaftlich und dann — vielleicht — politisch dach-
ten. Die fortschreitende Auflösung der Staatshoheit durch den Par-
lamentarismus bot die Möglichkeit, die Organe der staatlichen
Macht in dieser Richtung auszunützen. Vor allem geschah das in
England, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus eine
„Nation von shopkeepers" geworden war: die feindliche Macht sollte
nicht militärisch unterworfen, sondern wirtschaftlich als Konkur-
renzruiniert, als Abnehmerin englischer Waren aber erhalten werden.
Das war das Ziel des freihändlerischen „liberalen" Imperialismus
seit Robert Peel. Napoleon hatte die Kontinentalsperre als rein mili-
Unt.
d.
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
tärisches Mittel gedacht, weil ihm England gegenüber kein anderes
zur Verfügung stand. Auf dem Kontinent schuf er nur neue Dyna-
stien, während Pitt in der Ferne Handels- und Plantagenkolonien be-
gründete. Der Krieg von 191 4 aber wurde von England nicht Frank-
reichs oder gar Belgiens wegen, sondern „um des weekend willen"
geführt, um Deutschland als Wirtschaftskonkurrenz wenn möglich
für immer auszuschalten. 19 16 begann neben dem militärischen
der planmäßige Wirtschaftskrieg, der fortgesetzt werden sollte,
wenn der andere notwendig zum Ende kam. Die Kriegsziele wurden
seitdem immer entschiedener in dieser Richtung gesucht. Der Ver-
trag von Versailles sollte gar keinen Friedenszustand begründen,
sondern die Machtverhältnisse derart regeln, daß das Ziel jederzeit
mit neuen Forderungen und Maßnahmen gesichert werden konnte.
Daher die Auslieferung der Kolonien, der Handelsflotte, die Be-
schlagnahme der Bankguthaben, Besitzungen, Patente in allen Län-
das Saarland, die Einführung der Republik, von der man mit Recht
eine Untergrabung der Industrie durch die allmächtig gewordenen
ten erwartete, und endlich die Reparationen, die wenig-
im Sinne Englands keine Kriegsentschädigung sein sollten,
sondern eine dauernde Belastung der deutschen Wirtschaft bis zu
deren Erliegen.
Aber damit begann, sehr gegen die Erwartung der Mächte, die den
Vertrag diktiert hatten, ein neuer Wirtschaftskrieg, in dem wir uns
heute befinden und der einen sehr erheblichen Teil der gegenwär-
tigen „Weltwirtschaftskrise" bildet. Die Machtverteilung der Welt
war durch die Stärkung der Vereinigten Staaten und deren Hoch-
finanz und die neue Gestalt des russischen Reiches völlig verlagert,
die Gegner und Methoden andere geworden. Der augenblickliche
Krieg mit wirtschaftlichen Mitteln, den man in einer späteren Zeit
vielleicht als den zweiten Weltkrieg bezeichnen wird, brachte ganz
neue Formen der bolschewistischen Wirtschaftsoffensive in
das Pfund, die von fremden Börsen aus geleiteten Inflationen als
Zerstörung ganzer Nationalvermögen und die Autarkie der National-
zur Vernichtung des gegnerischen
it der Ex'u
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
41
gen großer Volker durchgeführt werden wird, den Dawes- und
Youngplan als Versuche von Finanzgruppen, ganze Staaten zur
Zwangsarbeit für Banken her abzudrücken. Es handelt sich in der
Tiefe darum, die Lebensfähigkeit der eigenen Nation durch Ver-
nichtung derjenigen fremder zu retten. Es ist der Kampf auf dem
Bootskiel. Und hier werden, wenn alle anderen Mittel erschöpft
sind, doch wieder die ältesten und ursprünglichsten, die militäri-
schen, in ihre Rechte treten: die stärker gerüstete Macht wird die
schwächere zwingen, ihre Wirtschaftsdefensive aufzugeben, zu ka-
pitulieren, zu verschwinden. Die Kanonen sind letzten Endes doch
stärker als die Kohle. Es läßt sich nicht absehen, wie dieser Wirt-
schaftskrieg ausgehen wird, aber sicher ist, daß er zuletzt den Staat
als Autorität, gestützt auf freiwillige und deshalb zuverlässige,
gut durchgebildete und sehr bewegliche Berufsheere, in seine ge-
schichtlichen Rechte wieder einsetzen und die Wirtschaft in die
zweite Linie verweisen wird, wohin sie gehört.
8
In diesem Zeitalter des Übergangs, der Formlosigkeit zwischen
den Zeiten", das wahrscheinlich noch lange nicht auf der Höhe der
Verwirrung und der flüchtigen Gestaltungen angelangt ist, zeichnen
sich ganz leise neue Tendenzen ab, die darüber hinaus in die fernere
Zukunft deuten. Die Mächte beginnen sich zu bilden, der Form und
der Lage nach, welche bestimmt sind, den Endkampf um die Herr-
schaft auf diesem Planeten zu führen, von denen nur eine dem Im^
perium mandi den Namen geben kann und wird, wenn nicht ein
ungeheures Schicksal es vernichtet, bevor es vollendet war. Nationen
einer neuen Art sind im Begriff zu entstehen, nicht wie sie heute
noch sind: Summen gleichgeordneter Individuen von gleicher
Sprache, auch nicht wie sie vormals waren, als man in der Re-
naissance ein Gemälde, eine Schlacht, ein Gesicht, einen Gedanken,
eine Art von sittlicher Haltung und Meinung mit Sicherheit dem Stil,
der Seele nach als italienisch erkannte, obwohl es einen italienischen
Staat gar nicht gab. Faustische Nationen vom Ende des 20. Jahrhun-
42
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
selbstverständlich mit der gleichen Sprache, ohne daß die Kenntnis
dieser Sprache sie bezeichnet oder abgrenzt, Menschen von starker
heit des Blickes für die Dinge der Wirklichkeit gehört, den man heute
in den großen Städten und unter Bücherschreibern nicht vom
„Geist" bloßer Intelligenzen zu unterscheiden weiß, Menschen, die
sich zu Herren geboren und berufen fühlen. Was kommt auf die
Zahl an? Sie hat nur das vorige Jahrhundert tyrannisiert, das vor
Quantitäten auf den Knien lag. Ein Mann bedeutet viel gegenüber
einer Masse von Skiavenseelen, von Pazifisten und Weltverbesse-
rern, die Ruhe um jeden Preis ersehnen, selbst um den der „Frei-
heit". Es ist der Übergang vom populus Romanus der Zeit Hanni-
bals zu den Repräsentanten des „Römertums" im i. Jahrhundert,
die wie Marius und Cicero zum Teil gar nicht „Römer" waren.
Es scheint, daß Westeuropa seine maßgebende Bedeutung verloren
hat, aber von der Politik abgesehen scheint es nur so. Die Idee der
faustischen Kultur ist hier erwachsen. Hier hat sie ihre Wurzeln
und hier wird sie den letzten Sieg ihrer Geschichte erfechten oder
rasch dahinsterben. Die Entscheidungen, wo sie auch fallen mögen,
geschehen um des Abendlandes willen, seiner Seele freilich, nicht
seines Geldes oder Glückes wegen. Aber einstweilen ist die Macht
in die Randgebiete verlegt, nach Asien und Amerika. Dort ist es die
Macht über die größte Binnenlandmasse des Erdballs, hier — in
den Vereinigten Staaten und den englischen Dominions — die über
die beiden durch den Panamakanal verbundenen weltgeschicht-
lichen Ozeane. Indessen von den Weltmächten dieser Tage steht
keine so fest, daß man mit Sicherheit sagen kann, sie werde in
hundert, in fünfzig Jahren noch eine Macht, ja überhaupt noch
vorhanden sein.
Was ist heute eine Macht großen Stils? Ein staatliches oder staat-
ähnliches Gebilde, mit einer Leitung, die weltpolitische Ziele hat
und der Wahrscheinlichkeit nach auch die Kraft, sie durchzusetzen,
gleichviel auf was für Mittel sie sich stützt : Heere, Flotten, politische
Organisationen, Kredite, mächtige Bank- oder Industriegruppen von
gleichem Interesse, endlich und vor allem eine starke strategische
Position auf dem Erdball. Man kann sie alle durch die Namen von
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
43
Millionenstädten bezeichnen, in denen die Macht und der Geist dieser
Macht gesammelt ist. Ihnen gegenüber sind ganze Länder und Völker
nichts als „Provinz". 1
Da ist vor allem „Moskau", geheimnisvoll und für abendländisches
Denken und Fühlen völlig unberechenbar, der entscheidende Fak-
tor für Europa seit 1812, als es staatlich noch zu diesem gehörte,
seit 1917 für die ganze Welt. Der Sieg der Bolschewisten bedeutet
geschichtlich etwas ganz anderes als sozialpolitisch oder wirtschafts-
theoretisch. Asien erobert Rußland zurück, nachdem „Europa"
es durch Peter den Großen annektiert hatte. Der Begriff Europa
wieder aus dem praktischen Denken der Po-
es tun, wenn wir Politikei
Dies „Asien" aber ist eine Idee, und zwar eine Idee,
hat. Rasse, Sprache, Volkstum, Religion in den heutigen Formen
sind daneben gleichgültig. Das alles kann und wird sich grund-
nicht zu bestimmende, ihrer selbst unbewußte neue Art von Leben,
mit dem eine große Landschaft schwanger ist und das sich auf dem
Wege zur Geburt befindet. Die Zukunft definieren, festlegen, in
ein Programm bringen wollen heißt das Leben mit einer Phrase
darüber verwechseln, wie es der herrschende Bolschewismus tut,
der sich seiner westeuropäischen, rationalistischen und großstädti-
schen Herkunft nicht hinreichend bewußt ist.
Die Bevölkerung dieses gewaltigsten Binnenlandes der Erde ist von
außen unangreifbar. Die Weite ist eine Macht, politisch und mili-
tärisch, die noch nie überwunden worden ist; das hat schon Na-
poleon erfahren. Was sollte es einem Feinde nützen, wenn er noch
so große Gebiete besetzt? Um auch den Versuch dazu wirkungslos
zu machen, haben die Bolschewisten den
stems immer weiter nach Osten verlegt. Die machtj
tigen Industriegebiete sind sämtlich östlich von Moskau, zum großen
Teil östlich vom Ural bis zum Altai hin, und südlich bis zum
Kaukasus aufgebaut worden. Das ganze Gebiet westlich Moskaus,
Weißrußland, die Ukraine, einst von Riga bis Odessa das lebens-
wichtigste des Zarenreiches, bildet heute ein phantastisches Glacis
gegen „Europa*
44
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
System zusammenbricht. Aber damit ist jeder Gedanke an eine
leeren Raum
Dies Bolschewistenregiment ist kein Staat in unserem Sinne, wie
es das petrinische Rußland gewesen war. Es besteht wie Kiptschak,
das Reich der „goldenen Horde" in der Mongolenzeit, aus einer
herrschenden Horde — kommunistische Partei genannt — mit
Häuptlingen und einem allmächtigen Khan und einer etwa hundert-
mal so zahlreichen unterworfenen, wehrlosen Masse. Von echtem
Marxismus ist da sehr wenig, außer in Namen und Programmen.
In Wirklichkeit besteht ein tartarischer Absolutismus, der die Welt
jrenzen zu
die der Vorsicht, verschmitzt, grausam, mit dem Mord als alltäg-
lichem Mittel der Verwaltung, jeden Augenblick vor der Möglich-
keit einen Dschingiskhan auftreten zu sehen, der Asien und Europa
Der echte Russe ist in seinem Lebensgefühl Nomade geblieben,
ganz wie der Nordchinese, der Mandschu und Turkmene. 1 Heimat
Rußland. Die Seele dieser unendlichen Landschaft treibt ihn zum
Wandern ohne Ziel. Der ,, Wille" fehlt. Das germanische Lebens-
gefühl hat ein Ziel, das erobert werden muß, ein fernes Land, ein
Problem, einen Gott, eine Macht, Ruhm oder Reichtum. Hier wan-
dern Bauernfamilien, Handwerker und Arbeiter von einer Gegend
in die andere, von Fabrik zu Fabrik, ohne Not, nur dem inneren
Drange folgend. Keine Gewaltmaßnahme der Sowjets hat das hin-
dern können, obwohl es das Entstehen eines Stammes gelernter und
mit dem Werk verbundener Arbeitskräfte unmöglich macht. Schon
ohne fremde Mitarbeit zu schaffen und zu erhalten.
Aber ist das kommunistische Programm überhaupt noch ernst ge-
meint, als Ideal nämlich, dem Millionen von Menschen geopfert worden
sind und um dessen willen Millionen hungern und im Elend leben?
Oder ist es nur ein äußerst wirksames Kampfmittel der Verteidi-
gung gegen die unterworfene Masse, vor allem die Bauern, und des
Angriffs gegen die verhaßte, nichtrussische Welt,
1 Polit. Schriften S. nof.
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
46
werden soll, bevor man sie niederwirft? 1 Sicher ist, daß sich tat-
sächlich nicht viel ändern würde, wenn man eines Tages aus
Gründen der machtpolitischen Zweckmäßigkeit das kommunistische
Prinzip fallen ließe. Die Namen würden anders werden; die
Verwaltungszweige der Wirtschaftsorganisation würden Konzerne
lie Kommunisten selbst
Aktienbesitzer. Im
längst vorhanden.
außer durch Propaganda. Dazu ist das Sy-
stem mit seinen westeuropäisch-rationalistischen Zügen, die noch
aus der literarischen Unterwelt von Petersburg stammen, viel zu
künstlich. Es würde keine Niederlage überleben, da es nicht einmal
einen Sieg überleben würde: Einem siegreichen General gegenüber
wäre die Moskauer Bürokratie verloren. Sowjetrußland würde durch
scheinlich abgeschlachtet werden. Aber damit wäre nur der Bolsche-
wismus marxistischen Stils überwunden, der nationalistisch-asi-
atische würde hemmungslos ins Gigantische wachsen. Aber ist die
rote Armee überhaupt zuverlässig? Ist sie brauchbar? Wie steht es
mit den berufsmäßigen und sittlichen Qualitäten des „Offizier-
korps"? Was bei den Paraden in Moskau gezeigt wird, sind nur die
Leibgarde der Machthaber. Aus der Provinz hört man immer wieder
von unterdrückten Verschwörungen. Und sind die Eisenbahnen, Flug-
haupt gewachsen? Sicher ist, daß das russische Verhalten in der
Mandschurei und die Nichtangriffspakte im Westen den Entschluß
verraten, einer militärischen Probe unter allen Umständen aus dem
Wege zu gehen. Die anderen Mittel, die wirtschaftliche Vernich-
tung der Gegner durch den Handel und vor allem die Revolution,
nicht als ideales Ziel, sondern als Waffe gedacht, wie sie 191 8
Prankreich gegen Deutschland
unget -
ki schrieb 1878: „Alle Menschen müssen russisch werden, als erstes und vor
1 russisch werden. Ist die Allmenschheit die russische Nationalidee, so muß
46
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
Demgegenüber hat Japan eine sehr starke Stellung. Zur See ist
es fast unangreifbar wegen der Inselketten, deren schmale Durch-
gänge mit Minenfeldern, Unterseebooten und Flugzeugen sicher ge-
sperrt werden können, so daß das Chinesische Meer für keine
fremde Flotte erreichbar ist. Darüber hinaus hat sich Japan in der
Mandschurei ein Festlandgebiet von gewaltiger wirtschaftlicher Zu-
kunft gesichert — die Sojabohne hat heute schon die Rentabilität
der Kokos- und öipalme in der Südsee und in Westafrika zerstört
— , dessen Menschenzahl ungeheuer wächst 1 und dessen endgültige
Grenzen heute noch ganz unbestimmt sind. Der geringste Versuch
der Bolschewisten, militärisch gegen diese Machtverschiebung ein-
zuschreiten, würde zur Fortnahme von Wladiwostok, der östlichen
Mongolei und wahrscheinlich Pekings führen. Die einzige prak-
tische Gegenwirkung ist die rote Revolution in China, aber sie ist
seit der Gründung der Kuomintang immer wieder an „kapitalisti-
schen" Angriffen gescheitert, nän
räle und ganzer Armeen von irgendeiner
Völker 2 wie die Inder und Chinesen können nie wieder eine selb-
ständige Rolle in der Welt der großen Mächte spielen. Sie können
die Herren wechseln, den einen vertreiben — etwa die Engländer
aus Indien — , um dem nächsten zu erliegen, aber sie werden nie
mehr eine eigene innere Form des politischen Daseins hervorbrin-
gen. Dazu sind sie zu alt, zu starr, zu verbraucht. Auch die Form
ihrer heutigen Auflehnung samt deren Zielen — Freiheit, Gleich-
heit, Parlament, Republik, Kommunismus und dergleichen — sind
ohne Ausnahme von Westeuropa und Moskau importiert. Sie sind
Objekte und Kampfmittel für fremde Mächte, ihre Länder Schlacht-
felder für fremde Entscheidungen, aber gerade dadurch können sie
eine gewaltige, wenn auch vorübergehende Bedeutung erlangen.
Ohne Zweifel haben Rußland und Japan den Blick auf die
ruhenden Möglichkeiten gerichtet und arbeiten im stillen mit Mit-
teln, die der „Weiße" weder kennt noch sieht. Aber steht Japan
st wie zur Zeit des
1 Sie hat sich in i5 Jahren •
biicklich über 3o Millionen.
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
47
Samurai, die mit zum besten gehört, was die ganze Welt an
„Rasse" besitzt. Aber heute hört man von radikalen Parteien,
Streiks, bolschewistischer Propaganda und ermordeten Ministem.
Ist dieser prachtvolle Staat schon über den Gipfel seines Daseins
hinaus, vergiftet von den demokratisch-marxistischen Verfalls-
formen der weißen Völker, jetzt wo der Kampf um den Stillen
Ozean eben in die entscheidende Phase tritt? Sollte es seine alte
Offensivkraft noch besitzen, dann ist es in Verbindung mit der un-
vergleichlichen strategischen Lage zur See jeder feindlichen Kombi-
nation gewachsen. Aber wer kommt hier als Gegner ernsthaft in
Betracht? Rußland sicherlich nicht, und ebensowenig irgendeine
westeuropäische Macht. Nirgends kann man das Herabsinken all
dieser Staaten von ihrem einstigen politischen Rang so deutlich
empfinden wie hier. Vor kaum zwanzig Jahren waren Port Arthur,
Weihaiwei und Kiautschou besetzt und die Aufteilung Chinas in
Interessenssphären westlicher Mächte im Gang. Das pazifische Pro-
blem war einmal ein europäisches. Jetzt wagt nicht einmal Eng-
land mehr, den seit Jahrzehnten geplanten Ausbau von Singapur
durchzuführen. Es hatte der mächtige Stützpunkt der englischen
Flotte bei ostasiatischen Verwicklungen sein sollen, aber läßt es
sich gegen Japan und Frankreich halten, wenn dieses den Landweg
über Hinterindien freigibt? Verzichtet England aber auf seine alte
Stellung in diesen Meeren und gibt damit Australien dem japani-
schen Druck preis, so wird dieses mit Sicherheit aus dem Empire
ausscheiden und sich Amerika anschließen. Amerika ist der ein-
zige ernsthafte Gegner, aber wie stark ist er an dieser Stelle zur
See, trotz des Panamakanals? San Franzisko und Hawaii liegen viel
zu weit entfernt, um Flottenstützpunkte gegen Japan zu sein, die
Philippinen sind kaum zu halten und Japan besitzt im lateinischen
rk,
9
Sind die Vereinigten Staaten eine Macht, die Zukunft hat? Flüchtige
Beobachter redeten vor 191 4 von unbegrenzten Möglichkeiten, nach-
iie neue
48
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
„Gesellschaft" Westeuropas nach 191 8, aus Snob und Mob ge-
mischt, schwärmt vom jungen, starken, uns weit überlegenen und
schlechtweg vorbildlichen Amerikanertum, aber sie verwechseln Re-
korde und Dollars mit der seelischen Kraft und Tiefe des Volks-
tums, die dazugehören, wenn man eine Macht von Dauer sein will,
mit Geist. Was ist der „hundertprozentige" Amerikanismus? Ein
nach dem unteren Durchschnitt genormtes Massedasein, eine pri-
mitive Pose oder ein Versprechen der Zukunft?
Sicher ist, daß es hier bisher weder ein wirkliches Volk noch einen
wirklichen Staat gibt. Können sich beide durch ein hartes Schicksal
aus, dessen seelische Vergangenheit anderswo lag und abgestorben
ist? Der Amerikaner redet wie der Engländer nicht von Staat oder
Vaterland, sondern von this country. In der Tat handelt es sich um
ein unermeßliches Gebiet und um eine von Stadt zu Stadt schwei-
fende Bevölkerung von Trappern, die in ihm auf die Dollarjagd
gehen, rücksichtslos und ungebunden, denn das Gesetz ist nur für
Die Ähnlichkeit mit dem bolschewistischen Rußland ist viel größer
als man denkt: Dieselbe Weite der Landschaft, die jeden erfolg-
reichen Angriff eines Gegners und damit das Erlebnis wirklicher
nationaler Gefahr ausschließt und so den Staat entbehrlich macht,
infolge davon aber auch ein echt politisches Denken nicht entstehen
läßt. Das Leben ist ausschließlich wirtschaftlich gestaltet und ent-
behrt deshalb der Tiefe, um so mehr als ihm das Element der echten
geschichtlichen Tragik, das große Schicksal fehlt, das die Seele der
abendländischen Völker durch Jahrhunderte vertieft und erzogen hat.
Die Religion, ursprünglich ein strenger Puritanismus, ist eine Art von
pflichtgemäßer Unterhaltung geworden und der Krieg war ein neuer
Sport. Und dieselbe Diktatur der öffentlichen Meinung hier und dort,
sie nun
lieh vors
sich auf alles erstreckt, was im Abendland dem Willen des einzelnen
freigestellt ist, Flirt und Kirchgang, Schuhe und Schminke, Mode-
tänze und Moderomane, das Denken, Essen und Vergnügen. Alles
alle gleich. Es gibt einen nach Körper, Kleidung und Seele
Typus des Amerikaners und vor allem der Amerikane-
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
riii, und wer sich dagegen auflehnt, wer das öffentlich zu kritisieren
wagt, verfällt der allgemeinen Ächtung, in Newyork wie in Moskau.
Und endlich findet sich eine fast russische Form des Staats-
sozialismus oder Staatskapitalismus, dargestellt durch die Masse der
Trusts, die den russischen Wirtschaftsverwaltungen entsprechend
leiten. Sie sind die eigentlichen Herren des Landes, hier wie dort.
Es ist der faustische Wille zur Macht, aber aus dem organisch Ge-
lismus, der ganz Amerika bis nach Santiago und Buenos Aires hin
durchdringt und überall die westeuropäische, vor allem die englische
Wirtschaft zu untergraben und auszuschalten sucht, gleicht mit
seiner Einordnung der politischen Macht in wirtschaftliche Tendenzen
genau dem bolschewistischen, und dessen Losung: Asien den
Asiaten" entspricht im wesentlichen durchaus der heutigen Auf-
fassung der Monroedoktrin für Lateinamerika: Ganz Amerika für
die Wirtschaftsmacht der Vereinigten Staaten. Das ist der letzte
Sinn der Gründung „unabhängiger" Republiken wie Kuba und
Panama, des Eingreifens in Nikaragua und des Sturzes unbe-
quemer Präsidenten durch die Macht des Dollars bis nach dem
äußersten Süden hin.
Aber diese Staat- und gesetzlose „Freiheit" des rein wirtschaftlich
gerichteten Lebens hat eine Kehrseite. Es ist aus ihm heraus eine
Seemacht entstanden, die stärker zu werden beginnt als die Eng-
lands, und die zwei Ozeane beherrscht. Es sind Kolonialbesitzungen
entstanden: die Philippinen, Hawaii, westindische Inseln. Und man
ist von geschäftlichen Interessen und durch die englische Propa-*
ganda immer tiefer in den ersten Weltkrieg bis zur militärischen
Beteiligung hineingezogen worden. Damit aber sind die Vereinigten
Staaten ein führendes Element der Weltpolitik geworden, ob sie es
wissen und wollen oder nicht, und sie müssen nun nach innen und
außen staatspolitisch denken und handeln lernen oder in ihrer heu-
tigen Gestalt verschwinden. Ein Zurück gibt es nicht mehr. Ist der
störbare Art des Lebens dar oder ist er nur eine Mode der leib-
lichen, geistigen und seelischen Kleidung? Aber wieviel Ein-
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
Typus innerlich überhaupt nicht an? Von den Negern ganz ab-
gesehen sind in den zwanzig Jahren vor dem Kriege nur noch
wenige Deutsche, Engländer und Skandinavier eingewandert, aber
i5 Millionen Polen, Russen, Tschechen, Balkanslaven, Ostjuden,
Griechen, Vorderasiaten, Spanier und Italiener. Sie sind zum großen
Teil nicht mehr im Amerikanertum aufgegangen und bilden ein
fremdartiges, andersdenkendes und sehr fruchtbares Proletariat mit
dem geistigen Schwerpunkt in Chikago. Sie wollen ebenfalls den
gesetzlos freien Wirtschaftskampf, aber sie fassen ihn anders auf.
Gewiß, es gibt keine kommunistische Partei. Die hat es als Organisation
für Wahlzwecke auch im Zarenreich nicht gegeben. Aber es gibt hier
wie dort eine mächtige Unterwelt fast Dostojewskischer Prägung mit
eigenen Machtzielen, Zersetzungs- und Geschäftsmethoden, die infolge
der üblichen Korruption der Verwaltungs-und Sicherheitsorgane, vor
allem durch den Alkoholschmuggel, der die politische und soziale
habende Schichten der Gesellschaft hinaufreicht. Sie schließt das
Berufsverbrechertum ebenso ein wie die geheimen Gesellschaften
von der Art des Ku-Klux-Klan. Sie umfaßt Neger und Chinesen
so gut wie die entwurzelten Elemente aller europäischen Stämme
und sie besitzt sehr wirksame, zum Teil schon alte
anisationen nach Art der italienischen Gamorra, der spanischen
und der russischen Nihilisten vor und Tschekisten nach
1917. Das Lynchen, die Entführungen und Attentate, Mord, Raub
und Brand sind längst erprobte Mittel der politisch-wirtschaft-
lichen Propaganda. Ihre Anführer nach Art der Jack Diamond und
AlCapone besitzen Villen, Autos und verfügen über Bankguthaben,
welche die vieler Trusts und selbst mittlerer Staaten übertreffen.
In weiten, dünnbevölkerten Gebieten haben Revolutionen notwendig
eine andere Form als in den Hauptstädten Westeuropas. Die latein-
amerikanischen Republiken beweisen das unaufhörlich. Hier gibt es
keinen starken Staat, der durch den Kampf gegen ein Heer mit alten
Traditionen gestürzt werden müßte, aber auch keinen, der die be-
stehende Ordnung schon durch die Ehrfurcht vor seinem Dasein
verbürgt. Was hier government heißt, kann sich sehr plötzlich in
en. Schon vor dem Kriege haben die r
durch eigene Befestig
DIE WELTKRIEGE UND WELT MÄCHTE
51
rschützen verteidigt. Es gibt im „Lande der Freiheit"
nur den Entschluß freier Männer, sich selbst zu helfen — der Revolver
in der Hosentasche ist eine amerikanische Erfindung — , aber er steht
den Besitzenden ebenso frei wie den andern. Erst kürzlich haben die
Farmer in Iowa ein paar Städte belagert und mit Aushungern be-
droht, wenn ihnen ihre Produkte nicht zu einem menschenwürdigen
Preis abgenommen würden. Vor wenig Jahren hätte man jeden für
irrsinnig erklärt, der das Wort Revolution in Beziehung auf dies
Land ausgesprochen hätte. Heute sind derartige Gedanken längst
an der Tagesordnung. Was werden die Massen von Arbeitslosen
tun — ich wiederhole: zum überwiegenden Teil nicht „hundertpro-
zentige Amerikaner" — , wenn ihre Hilfsquellen vollständig er-
schöpft sind und es keine staatliche Unterstützung gibt, weil es
keinen organisierten Staat mit genauer und ehrlicher Statistik und
Kontrolle der Bedürftigen gibt? Werden sie sich der Kraft ihrer
Fäuste und ihrer wirtschaftlichen Interessengemeinschaft mit der
Unterwelt erinnern? Und wird die geistig primitive, nur an Geld
denkende Oberschicht im Kampf mit dieser ungeheuren Gefahr auf
einmal schlummernde moralische Kräfte offenbaren, die zum wirk-
lichen Aufbau eines Staates führen und zur seelischen Bereitschaft,
Gut und Blut für ihn zu opfern, statt wie bisher den Krieg als Mittel
zum Geldverdienen aufzufassen? Oder werden die wirtschaftlichen
Sonderinteressen einzelner Gebiete doch stärker bleiben und, wie
1861 schon einmal, zum Zerfall des Landes in einzelne Staaten
führen — etwa den industriellen Nordosten, die
mittleren Westens, die Negerstaaten des Süden
seits der Rocky Mountains?
Es gibt, wenn man von Japan absieht, das lediglich den Wunsch
hat, seine imperialistischen Pläne in Ostasien und nach Australien
hin ungestört durchzuführen, nur eine Macht, welche alles tun und
jedes Opfer bringen würde, um einen solchen Zerfall zu fördern:
England. Es hat das schon einmal getan, bis dicht an eine Kriegs-
erklärung heran: 1862 — 64 während des Sezessionskrieges, als für
die Südstaaten in britischen Häfen Kriegs- und Kaperschiffe ge-
baut oder gekauft wurden, die in europäischen Gewässern ausge-
rüstet und bemannt — die „Alabama" sogar mit britischen
Seesoidaten — , die Handelsschiffe der Nordstaaten überall ver-
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
brannten und versenkten, wo sie sie auch trafen. Damals war Eng-
land noch unbestrittene Herrin der Meere. Es war der einzige Grund,
„Freiheit der Meere" war die englische Freiheit des Handelns,
nichts anderes. Das ist seit 1918 zu Ende. England, im 19. Jahr-
hundert das Kontor der Welt, ist heute nicht mehr reich genug, um
im Tempo des Flottenbaues die Spitze zu halten, und seine Macht
reicht nicht mehr aus, um andere mit Gewalt an der Überflüge-
lung zu hindern. Das Vorgefühl dieser historischen Grenze war
einer der Gründe für den Krieg gegen Deutschland, und der No-
vember 191 8 wahrscheinlich die letzte allzu kurze Zeit, in der sich
diese Macht von gestern die Illusion eines großen Sieges gönnen
durfte. Aber abgesehen von der wachsenden Ünterlegenheit im Bau
von Schlachtschiffen hat sich, wie eben gezeigt wurde, der Begriff der
Seebeherrschung grundlegend verändert. Neben den Unterseebooten
Hinterland wichtiger als Küste und Häfen. Gegenüber französischen
Bombengeschwadern hat England aufgehört, strategisch eine Insel
England in die Vergangenheit.
Aber auch die englische Nation ist der Seele und Rasse nach nicht
mehr stark, nicht mehr jung und gesund genug, um diese furchtbare
Krise mit Zuversicht durchzukämpfen. England ist müde geworden.
Es hat noch im 19. Jahrhundert zuviel wertvolles Blut für seine Be-
sitzungen hingegeben, durch Auswanderung an die weißen Dominions,
durch klimatische Verheerungen in den farbigen Kolonien. Und vor
allem fehlt ihm die rassemäßige Grundlage eines starken Bauerntums.
Dieseitder NormannenzeitherrschendeOberschicht aus Germanen und
Kelten — es gibt keinen Unterschied dazwischen — ist aufgebraucht.
Überall dringt die massenhafte Urbevölkerung, die man fälschlich
Kelten nennt, 1 mit ihrem andersgearteten, „französischen" Le-
1 Es ist dieselbe Rasse, welcher der französische Bauer und Bourgeois und die Mehrheit
der Spanier angehören, nachdem auch dort das nordische Element im Kriege und durch
Auswanderung verbraucht worden ist. Die echt keltischen Stämme sind erst in der Mitte
DIE W ELT K RIEGE UND WELTMÄCHTE
bensgefühl in die herrschende Stellung ein und hat z. B. schon
die alte, oligarchische Form der vornehmen parlamentarischen
Regierung in die kontinentale und anarchische Art schmutziger
Parteikämpfe umgewandelt. Galsworth y hat diese Tragik des Er-
löschens mit tiefem schmerzlichen Verstehen in seiner Forsyte Saga
geschildert. Damit siegt wirtschaftlich das Rentnerideal über den
kapitalistischen Imperialismus. Man besitzt noch erhebliche Reste
des einstigen Reichtums, aber der Antrieb fehlt, neuen zu erkämp-
fen. Industrie und Handel veralten langsam in ihren Methoden,
ohne daß die schöpferische Energie da wäre, nach amerikanischem
und deutschem Vorbild neue Formen zu schaffen. Die Unterneh-
mungslust stirbt ab, und die junge Generation zeigt geistig, sittlich
und in ihrer Weltanschauung einen Absturz von der Höhe, zu der
die Qualität der englischen Gesellschaft im vorigen Jahrhundert
hinaufgezüchtet war, der erschreckend und in der ganzen Welt ohne
Beispiel ist. Der alte Appell: England expects everyman to do his
duly, den vor dem Kriege jeder junge Engländer aus guter Familie
in Eton und Oxford an sich persönlich gerichtet fühlte, hallt
heute in den Wind. Man beschäftigt sich spielerisch mit bolsche-
und Inhalt des Lebens. Es sind die Leute der älteren Generation,
die schon als Männer in hohen Stellungen tätig waren, als der Krieg
nd Verzweiflung fragen, wer denn das
Ideal des Greater Britain nach ihnen verteidigen soll. Bernhard
Shaw hat im „Kaiser von Amerika" angedeutet, daß „einige" lieber
den hoffnungslosen Kampf gegen Amerikas Übermacht durchfech-
ten als die Waffen strecken würden, aber wie viele werden das in
zehn, in zwanzig Jahren sein? Im Westm inster Statut von io,3i hat
England die weißen Dominions als Commonwealth of nations sich
verband sich mit diesen Staaten auf Grund gleicher Interessen, vor
allem des Schutzes durch die englische Flotte. Aber morgen schon
können Kanada und Australien sich ohne Sentimentalität den Ver-
einigten Staaten zuwenden, wenn sie dort ihre Interessen, etwa als
weiße Nationen gegen das gelbe Japan, besser gewahrt sehen. Jen-
seits von Singapur ist die einstige Stellung Englands schon aufge-
54
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
Ägypten und im Mittelmeer keinen eigentlichen Sinn mehr. Die
englische Diplomatie alten Stils versucht vergebens, den Kontinent
wie einst für englische Zwecke gegen Amerika — als Schuldner-
front — und gegen Rußland — als Front gegen den Bolschewismus
zu machen. Aber das ist bereits Diplomatie von vor-
Sie hat io,i4 ihren letzten verhängnisvollen Erfolg ge-
habt. Und wie, wenn sich beim letzten Aufbäumen englischen tra-
ditionsgesättigten Stolzes Rußland und Amerika verständigen? Das
liegt nicht außerhalb aller Möglichkeiten.
Gegenüber solchen Erscheinungen, in denen sich das Schicksal der
Welt vielleicht für Jahrhunderte dunkel und drohend zusammen-
ballt, haben die romanischen Länder nur noch provinziale Bedeu-
tung. Auch Frankreich, dessen Hauptstadt im Begriff ist, eine histo-
rische Sehenswürdigkeit zu werden wie Wien und Florenz, und Athen
in der Römerzeit. Solange der alte Adel keltischen und germanischen
bis zu den Kreuzzügen zurückreichten, die große Politik in Händen
hatte, etwa bis auf Ludwig XIV., gab es große Ziele wie die Kreuz-
züge selbst und die Kolonialgründungen des 17. Jahrhunderts.
Das französische Volk aber hat von jeher immer nur mächtig ge-
wordene Nachbarn gehaßt, weil deren Erfolge seine Eitelkeit ver-
letzten, die Spanier, die Engländer, vor allem die Deutschen — im
habsburgischen wie im Hohcnzollernstaat gegen die der uralte
Haß seit der mißglückten „Rache für Sadowa" ins Irrsinnige
wuchs. Es hat niemals in die Fernen des Raumes und der Zeit zu
sein Streben nach gloire immer nur durch die Einverleibung oder
Verwüstung von Landstrichen an der Grenze befriedigt. Welcher
echte Franzose begeistert sich im Grunde für den riesigen Besitz
in Westafrika mit Ausnahme von hohen Militärs und Pariser Geld-
leuten? Oder gar für Hinterindien? Und was geht sie selbst Elsaß-
Lothringen an, nachdem sie es „zurückerobert" haben? Mit dieser
Tatsache hat es jeden Reiz für sie verloren.
Die französische Nation sondert sich immer deutlicher in zwei
seelisch grundverschiedene Bestandteile. Der eine weitaus zahl-
Element, der Prc
der Bauer und
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE 55
wollen nichts als die Ruhe eines in Schmutz, Geiz und Stumpfheit
müde und unfruchtbar gewordenen Volkstums, ein wenig Geld,
Wein und „amour", und wollen nichts mehr von großer Politik,
von wirtschaftlichem Ehrgeiz, vom Kampf um bedeutende Lebens-
ziele hören. Darüber aber liegt die langsam kleiner werdende jako-
binische Schicht, die seit 1792 das Schicksal des Landes bestimmt
und den Nationalismus französischer Prägung nach einer alten Lust-
spielfigur von i83i auf den Namen Chauvin getauft hat. Sie setzt
sich zusammen aus Offizieren, Industriellen, den höheren Beamten
der von Napoleon streng zentralisierten Verwaltung, den Journalisten
der Pariser Presse, den Abgeordneten ohne Unterschied der Parteien
und ihrer Programme — Abgeordneter sein bedeutet in Paris ein
Privat-, kein Parteigeschäft — und einigen mächtigen Organisationen
wie der Loge und den Frontkämpferverbänden. Im stillen geleitet
und ausgenützt wird sie seit einem Jahrhundert von der internatio-
nalen Pariser Hochfinanz, welche die Presse und die Wahlen be-
zahlt. Chauvinismus ist längst in weitem Umfange ein Geschäft.
Die .Herrschaf t dieser Oberschicht beruht heute auf der namenlosen
aber echten Angst der Provinz vor irgendwelchen außenpolitischen
Gefahren und vor neuer Entwertung der Ersparnisse, einer Angst,
die durch die Pariser Presse und die geschickte Art, Wahlen zu
machen, aufrechterhalten wird. Aber diese Stimmung ist noch auf
Jahre hinaus eine Gefahr für alle Nachbarländer, England und
Italien so gut wie Deutschland. Sie hat sich vor 191 4 von England
und Rußland für deren Ziele gebrauchen lassen und würde heute
noch einem geschickten Staatsmann eines fremden Landes als In-
strument zur Verfügung stehen. Die Gestalt Chauvins wächst lang-
sam zum Gegenteil des spanischen Don Quichote empor und erregt
heute schon in ihrer grandiosen Komik das Lächeln der halben
Welt: Der greisenhaft gewordene Draufgänger, der nach vielen
Freunde von gestern zu Hilfe rufend in seinem zur Festung umge-
bauten Hause zitternd aus dem Fenster blickt und beim Anblick
jedes kaum bewaffneten Nachbarn außer sich gerät. Das ist das
Ende der grande nation. Ihr Erbe im Gebiet des Mittelmeers und
der Welt hinter sich,
66
DIE WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE
Nordafrikas wird vielleicht die Schöpfung Mussolinis sein, wenn
sie sich unter seiner Leitung lange genug bewährt, um die nötige see-
Von keiner dieser Mächte kann man heute sagen, ob sie um die Mitte
des Jahrhunderts in ihrer heutigen Gestalt noch vorhanden ist. Eng-
land kann auf seine Insel beschränkt, Amerika zerfallen sein ; Japan
und Frankreich, die heute allein wissen, was ein starkes Heer wert
ist, können in die Hände kommunistischer Gewalthaber gefallen
nicht einmal vermuten. Aber beherrscht wird die augenblickliche
Lage von dem Gegensatz zwischen England und Rußland im
Osten und zwischen England und Amerika im Westen. In beiden
Fällen geht England wirtschaftlich, diplomatisch, militärisch und
moralisch zurück und die schon verlorenen Positionen sind zum
Teil überhaupt nicht, auch nicht durch einen Krieg wieder zu
Kapitulation? Oder steht dem Unterliegenden nicht einmal diese
Wahl mehr frei? Die meisten Angelsachsen auf beiden Seiten des
Atlantischen Ozeans glauben sich durch Blut und Tradition fester
len, als daß sie hier vor eine Entscheidung gestellt werden
1. Aber der Glaube, daß Blut dicker sei als Wasser, hat für
England und Deutschland seine Probe schlecht bestanden. Der
Bruderhaß ist unter Menschen immer stärker gewesen als der Haß
gegen Fremde, und gerade er kann aus kleinen Anlässen plötzlich zu
einer Leidenschaft wachsen, die kein Zurück mehr gestattet.
So sieht die Welt aus, von der Deutschland umgeben ist. In
dieser Lage ist für eine Nation ohne Führer und Waffen, ver-
armt und zerrissen, nicht einmal das nackte Dasein gesichert.
Wir haben Millionen in Rußland abschlachten und in China ver-
hungern sehen und es war für die übrige Welt nur eine Zeitungs-
nachricht, die man am Tage darauf vergaß. Kein Mensch wi
draußen in seiner Ruhe gestört werden, wenn Schlimmeres ir
in Westeuropa geschähe. Man erschrickt nur vor Drohungen; mit
vollendeten Tatsachen findet der Mensch sich schnell ab. Ob ein-
zelne oder Völker sterben, sie hinterlassen keine Lücke. Ange-
sichts dieser Lage haben wir Deutschen bisher nichts aufgebracht
als den Lärm um Parteiideale und das gemeine Gezänk um die Vor-
DIB WELTKRIEGE UND WELTMÄCHTE 57
teile von Berufsgruppen und Länderwinkeln. Aber der Verzicht
auf Weltpolitik schützt nicht vor ihren Folgen. In denselben
Jahren, als Kolumbus Amerika entdeckte und Vasco da Gama den
Seeweg nach Ostindien fand, als die westeuropäische Welt ihre
Macht und ihren Reichtum über den Erdball zu erstrecken begann,
wurde auf Antrag der englischen Kaufmannschaft der Stahlhof
in London geschlossen, das letzte Zeichen einstiger hanseatischer
Großmacht, und damit verschwanden deutsche Kauffahrer von den
Ozeanen, weil es keine deutsche Flagge gab, die von ihren Masten
wehen konnte. Damit war Deutschland ein Land geworden, zu arm
für eine große Politik. Es mußte seine Kriege mit fremdem Geld
und im Dienste dieses Geldes führen und führte sie um elende
Fetzen eigenen Landes, die von einem Zwergstaat dem andern fort-
genommen wurden. Die großen Entscheidungen in der Ferne wurden
weder beachtet noch begriffen. Unter Politik verstand man etwas
so Erbärmliches und Kleines, daß sich nur Menschen von sehr
kleinem Charakter damit beschäftigen mochten. Soll das wieder-
kommen, jetzt in den entscheidenden Jahrzehnten? Sollen wir als
Träumer, Schwärmer und Zänker von den Ereignissen verschlun-
gen werden und nichts hinterlassen, was unsere Geschichte in einiger
Größe vollendet? Das Würfelspiel um die Weltherrschaft hat erst
begonnen. Es wird zwischen starken Menschen zu Ende gespielt
werden. Sollten nicht auch Deutsche darunter sein?
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
eitaltcr der Weltkriege aus, in dessen Anfängen wir uns
Aber dahinter erscheint das zweite Element der unge-
heuren Umwälzung, die Weltrevolution. Was will sie? Worin be-
steht sie? Was hat das Wort im tiefsten Grunde zu bedeuten? Man
versteht seinen vollen Inhalt heute so wenig wie den geschichtlichen
Sinn des ersten Weltkrieges, der eben hinter uns liegt. Es handelt
sich nicht um die Bedrohung der Weltwirtschaft durch den Bolsche-
wismus von Moskau, wie es die einen, und nicht um die „Befreiung"
der Arbeiterklasse, wie es die andern meinen. Das sind nur Fragen
der Oberfläche. Vor allem: diese Revolution droht nicht erst, son-
dern wir stehen mitten darin, und nicht erst seit gestern
sondern seit mehr als einem Jahrhundert. Sie durchkreuzt den „u
zontalen" Kampf zwischen den Staaten und Nationen durch den verti-
kalen zwischen den führenden Schichten der weißen Völ-
ker und den andern, und im Hintergrund hat schon der weit ge-
fährlichere zweite Teil dieser Revolution begonnen: der Angriff
auf die Weißen überhaupt von seiten der gesamten Masse
der farbigen Erdbevölkerung, die sich ihrer Gemeinschaft
langsam bewußt wird.
Dieser Kampf herrscht nicht nur zwischen den Schichten von Men-
schen, sondern darüber hinaus zwischen den Schichten des Seelen-
lebens bis in den einzelnen Menschen hinein. Fast jeder von uns hat
diesen Zwiespalt des Fühlens und Meinens in sich, obwohl er das gar
nicht weiß. Deshalb kommen so wenige zu der klaren Einsicht, auf
welcher Seite sie wirklich stehen. Aber gerade das zeigt die innere
Notwendigkeit dieser Entscheidung, die weit über das persönliche
Wünschen und Wirken hinausgeht. Mit den Schlagworten, welche
Kommunismus, Klassenkampf, Kapitalismus und Sozialismus, mit
denen jeder die Frage genau umschrieben glaubt, weil er nicht
len ver
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
auf der gleichen Stufe zu
so wenig wir im
wissen. 1
Aber von der Antike wissen wir genug. Der Höhepunkt der revo-
lutionären Bewegung liegt in der Zeit von Tib. und G. Gracchus bis
auf Sulla, aber der Kampf gegen die führende Schicht und deren
gesamte Tradition begann schon ein volles Jahrhundert früher durch
C. Flaminius, dessen Ackergesetz von 23a Polybius (II, 21) mit
Recht als den Anfang der Demoralisation der Volksmasse bezeichnet
hat. Diese Entwicklung wurde nur vorübergehend durch den Krieg
gegen Hannibai unterbrochen und abgelenkt, gegen dessen Ende be-
reits Sklaven in das „Bürgerheer" eingestellt worden sind. Seit der
Ermordung der beiden Gracchen — und ihres großen Gegners, des
Mächte altrömischer Tradition schnell dahin. Marius, aus dem nie-
deren Volk und nicht einmal aus Rom stammend, stellte das erste
Heer auf, das nicht mehr auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht,
sondern aus besoldeten, ihm persönlich anhängenden Freiwilligen
gebildet war, und griff mit ihm rücksichtslos und blutig in die inne-
ren Verhältnisse Roms ein. Die alten Geschlechter, in denen seit
Jahrhunderten staatsmännische Begabung und sittliches Pflicht-
bewußtsein herangezüchtet worden waren und denen Rom seine Stel-
lung als Weltmacht verdankte, wurden zum guten Teil ausgerottet.
Der Römer Sertorius versuchte mit den barbarischen Stämmen Spa-
niens dort einen Gegenstaat zu gründen, und Spartakus rief die
Sklaven Italiens zur Vernichtung des Römertums auf. Der Krieg
gegen Jugurtha und die Verschwörung Gatilinas zeigten den Ver-
fall der herrschenden Schichten selbst, deren entwurzelte Elemente
jeden Augenblick bereit waren, den Landesfeind und den Pöbel des
Forums für ihre schmutzigen Geldinteressen zu Hilfe zu rufen.
Sallust hatte vollkommen recht: Am baren Gclde, nach dem der
Pöbel und die reichen Spekulanten gleich gierig waren, sind die Ehre
und Größe Roms, seine Rasse, seine Idee zugrunde gegangen. Aber
diese großstädtische, von allen Seiten her zusammengelaufene Masse
wurde — wie heute — nicht von innen heraus mobilisiert und or-
um
Druck der
1 Unt. d. Abendl.
Schic
, S. 522 ff., 56off.
60
DIE WEISSE WELT REVOLUTION
für die Zwecke von Geschäftspolitikern und Berufsrevolutionären.
Aus diesen Kreisen hat sich die „Diktatur von unten" als die not-
wendige letzte Folge der radikalen demokratischen Anarchie ent-
wickelt, damals wie heute. Polybius, der staatsmännische Erfahrung
und einen scharfen Blick für den Gang der Ereignisse besaß, sah das
schon dreißig Jahre vor C. Gracchus mit Sicherheit voraus : „Wenn
sie hinter hohen Staatsämtern her sind und sie nicht auf Grund
persönlicher Vorzüge und Fähigkeiten erhalten können, dann ver-
schwenden sie Geld, indem sie die Masse auf jede Art ködern und
verführen. Die Folge ist, daß das Volk durch dies politische Streber-
ehmen gewöhnt und begehrlich nach Geld ohne
geht die Demokratie zu Ende, und es tritt die
Gewalt und das Recht der Fäuste an ihre Stelle. Denn sobald die
Menge, die von fremdem Eigentum zu leben und die Hoffnung für
ihren Unterhalt auf den Besitz anderer zu gründen sich gewöhnt hat,
einen ehrgeizigen und entschlossenen Führer findet, geht sie zur An-
wendung der Macht ihrer Fäuste über. Und jetzt, sich zusammen-
rottend, wütet sie mit Mord und Vertreibung und eignet sich den Be-
s sie völlig verwildert in die Gewalt eines un-
i Diktators gerät." 1 „Die eigentliche Katastrophe wird
die Schuld der Masse herbeigeführt werden, wenn sie
r einen sich geschädigt glaubt, während der
»eiz der andern, ihrer Eitelkeit schmeichelnd, sie zur Selbst-
überschätzung verführt. In der Wut wird sie sich erheben, wird bei
allen Verhandlungen nur der Leidenschaf t Gehör geben, wird denen,
welche den Staat leiten, keinen Gehorsam mehr leisten, ja ihnen
nicht einmal Gleichberechtigung zugestehen, sondern in allem das
Recht der Entscheidung für sich fordern. Wenn es dahin kommt,
wird der Staat sich mit den schönsten Namen schmücken, denen der
Freiheit und Regierung des Volkes durch sich selbst, aber in Wirk-
wird er die schlimmste Form erhalten haben, die Ochlo-
Diese Diktatur droht heute den weißen Völkern nicht etwa, sondern
wir befinden uns unter ihrer vollen Herrschaft, und zwar so tief und
[ gar nicht mehr bemerken. Die „Dikta-
tur des Proletariats"
i VI, 9. * VI, 5 7 .
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
und der Parteifunktionäre aller Richtungen, ist eine vollzogene Tat-
sache, ob die Regierungen nun von ihnen gebildet oder infolge der
Angst des „Bürgertums' 'von ihnen beherrscht werden. Das hatte Marius
gewollt, aber er scheiterte an seinem völligen Mangel staatsmänni-
scher Begabung. Davon besaß sein Neffe Cäsar um so mehr, und er
hat die furchtbare Revolutionszeit durch seine Form der „Diktatur
beendet, die an die Stelle der parteimäßigen Anarchie
die unumschränkte Autorität einer überlegenen Persönlichkeit
setzte, eine Form, der er für immer den Namen gegeben hat. Seine
Ermordung und deren Folgen konnten nichts mehr daran ändern.
Von ihm an gehen die Kämpfe nicht mehr um Geld oder Befriedi-
gung des sozialen Hasses, sondern nur noch um den Besitz der ab-
Mit dem Kampf zwischen „Kapitalismus" und „Sozialismus" hat das
gar nichts zu tun. Im Gegenteil : die Klasse der großen Finanzleute und
Spekulanten, die römischen equites, was seit Mommsen ganz irre-
führend mit Ritterschaft übersetzt wird, haben sich mit dem Pöbel
und seinen Organisationen, den Wahlklubs (sodalicia) und bewaff-
len wie denjenigen des Milo und Clodius, immer sehr gut
Sie gaben das Geld her für Wahlen, Aufstände und
jen, und C.Gracchus hat ihnen dafür die Provinzen zur
unumschränkten Ausbeutung unter staatlicher Deckung preisgegeben,
in denen sie namenloses Elend durch Plünderung, Wucher und den
Verkauf der Bevölkerung ganzer Städte in die Sklaverei verbrei-
teten, und darüber hinaus die Besetzung der Gerichte, in denen sie
nun über ihre eigenen Verbrechen urteilen und sich gegenseitig frei-
sprechen konnten. Dafür versprachen sie ihm alles und sie ließen
ihn und seine ernstgemeinten Reformen fallen, als sie ihren eigenen
Vorteil in Sicherheit gebracht hatten. Dieses Bündnis zwischen Börse
und Gewerkschaft besteht heute wie damals. Es liegt in der natür-
lichen Entwicklung solcher Zeiten begründet, weil es dem gemein-
samen Haß gegen staatliche Autorität und gegen die Führer der pro-
duktiven Wirtschaft entspringt, welche der anarchischen Tendenz auf
Gelderwerb ohne Anstrengung im Wege stehen. Marius, ein politi-
scher Tropf wie viele voi
männer Saturninus und Cinna
i Unt. d. Abendl.II, S. 566 ff.
62
DIE WEISSE WELT REVOLUTION
und Sulla, der Diktator der nationalen Seite, richtete deshalb nach
der Erstürmung Roms unter den Finanzleuten ein furchtbares Ge-
metzel an, von dem sich diese Klasse nie wieder erholt hat. Seit Casar
verschwindet sie als politisches Element vollständig aus der Ge-
schichte. Ihr Dasein als politische Macht war mit dem Zeitalter der
Diese Revolution von der Dauer mehr als eines Jahrhunderts
hat im tiefsten Grunde mit „Wirtschaft" überhaupt nichts zu
Sie ist eine lange Zeit der Zersetzung des gesamten Lebens
Kultur, die Kultur selbst als lebendiger Leib begriffen. Die
Form des Lebens zerfällt und damit die Kraft, ihr durch
pferische Werke, deren Gesamtheit die Geschichte der
Staaten, Religionen, Künste bildet, nach außen hin Ausdruck zu
geben, nachdem sie bis zur äußersten Höhe ihrer Möglichkeiten ge-
reift war. Der einzelne Mensch mit seinem privaten Dasein folgt
dem Zuge des Ganzen. Sein Tun, Sichverhalten, Wollen, Denken,
Erleben bilden mit Notwendigkeit ein wenn auch noch so geringes
fragen verwechselt, so ist das schon ein Zeichen des Verfalls, der
auch in ihm vor sich geht, ob er das nun fühlt und erkennt oder
nicht. Es versteht sich von selbst, daß Wirtschaftsformen in dem-
selben Grade Kultur sind wie Staaten, Religionen, Gedanken und
Künste. 1 Was man aber meint, sind nicht die Formen des Wirt-
wachsen und vergehen, sondern der materielle Ertrag der wirtschaft-
Tatigkeit, den man heute mit dem Sinn von Kultur und
tweg gle
materialistisch und mechanir* 1
Weltkatastrophe betrachtet.
Der Schauplatz dieser Revol
gleich ur
i Unt. d. Abendl. II, S. 586 ff.
DIE WEISSE W ELT REVOLÜT ION
Kulturen sich zu bilden beginnt. 1 In dieser steinernen und versteinern-
den Welt sammelt sich in immer steigendem Maße entwurzeltes
Volkstum an, das dem bäuerlichen Lande entzogen wird, „Masse" in
erschreckendem Sinne, formloser menschlicher Sand, aus dem man
zwar künstliche und deshalb flüchtige Gebilde kneten kann, Par-
teien, nach Programmen und Idealen entworfene Organisationen, in
dem aber die Kräfte natürlichen, durch die Folge der Generationen
mit Tradition gesättigten Wachstums abgestorben sind, vor allem die
natürliche Fruchtbarkeit allen Lebens, der Instinkt für die Dauer
der Familien und Geschlechter. Der Kinderreichtum, das erste
Zeichen einer gesunden Rasse, wird lästig und lächerlich. 2 Es ist das
ernsteste Zeichen des „Egoismus" großstädtischer Menschen, selb-
ständig gewordener Atome, des Egoismus, der nicht das Gegenteil
des heutigen Kollektivismus ist — dazwischen besteht überhaupt
kein Unterschied; ein Haufen Atome ist nicht lebendiger als ein
kommen, in der schöpferischen Sorge für sie, in der Dauer seines
Namens fortzuleben. Dafür schießt die kahle Intelligenz, diese einzige
Blüte, das Unkraut des städtischen Pflasters, in unwahrscheinlichen
Mengen auf. Das ist nicht mehr die sparsame, tiefe Weisheit alter
Bauern geschlechter, die so lange wahr bleibt, als die Geschlechter
dauern, zu denen sie gehört, sondern der bloße Geist des Tages, der
Tageszeitungen, Tagesliteratur und Volksversammlungen, der Geist
ohne Blut, der alles kritisch zernagt, was von echter, also ge-
wachsener Kultur noch lebendig aufrecht steht.
Denn Kultur ist ein Gewächs. Je vollkommener eine Nation die
Kultur repräsentiert, zu deren vornehmsten Schöpfungen immer die
Kulturvölker selbst gehören, je entschiedener sie im Stile echter
Kultur geprägt und gestaltet ist, desto reicher ist ihr Wuchs ge-
gliedert nach Stand und Rang, mit ehrfurchtgebietenden Distanzen
vom wurzelhaften Bauerntum bis hinauf in die führenden Schichten
der städtischen Gesellschaft. Hier bedeuten Höhe der Form, der
Tradition, Zucht und Sitte, angeborene
eit der leitenden
Geschlechter, Kreise, Persönlichkeiten das Leben, das Schicksal
des Ganzen. Eine Gesellschaft in diesem Sinne bleibt von Ver-
den Eint
64 DIE WEISSE WELTREVOLUTION
sie hat aufgehört zu sein. Vor allem besteht sie aus Rangord-
nungen und nicht aus „Wirtschaf tsklassen". Diese englisch-
materialistische Ansicht, die sich seit Adam Smith mit und aus
dem zunehmenden Rationalismus entwickelt hat und vor fast hun-
dert Jahren von Marx in ein flaches und zynisches System gebracht
worden ist, wird dadurch nicht richtiger, daß sie sich durchgesetzt
hat und in diesem Augenblick das gesamte Denken, Sehen und
Wollen der weißen Völker beherrscht. Sie ist ein Zeichen des Ver-
falls der Gesellschaft und weiter nichts. Schon vor dem Ende dieses
Jahrhunderts wird man sich mit Erstaunen fragen, wie diese Wer-
tung gesellschaftlicher Formen und Stufen nach „Arbeitgebern" und
„Arbeitnehmern 4 , nach der Menge von Geld also, die der einzelne
als Vermögen, Rente oder Lohn hat oder haben will, überhaupt ernst
genommen werden konnte, nach der Geldmenge, nicht nach der
standesgebundenen Art, wie es erworben und zu echtem Besitz ge-
staltet wird. Es ist der Standpunkt von Proleten und Parvenüs, die
im tiefsten Grunde derselbe Typus sind, dieselbe Pflanze des groß-
städtischen Pflasters, vom Dieb und Agitator der Gasse bis zum
Spekulanten der Börse und der Parteipolitik.
„Gesellschaft" aber bedeutet Kultur haben, Forin haben bis in den
kleinsten Zug der Haltung und des Denkens hinein, Form, die durch
eine lange Zucht von ganzen Geschlechtern herangebildet worden ist,
strenge Sitte und Lebensauffassung, welche das gesamte Sein mit
tausend nie ausgesprochenen und nur selten ins Bewußtsein treten-
den Pflichten und Bindungen durchdringt, damit aber alle Menschen,
die dazu gehören, zu einer lebendigen Einheit macht, oft weit über
die Grenzen einzelner Nationen hinaus wie den Adel der Kreuzzüge
und des 1 8. Jahrhunderts. Das bestimmt den Rang : das heißt „Welt
haben". Das wird schon unter den germanischen Stämmen beinahe
mystisch mit Ehre bezeichnet. Diese Ehre war eine Kraft, welche
das ganze Leben der Geschlechter durchdrang. Die persönliche Ehre
war nur das Gefühl der unbedingten Verantwortung des einzelnen
für die Standesehre, die Berufsehre, die nationale Ehre. Der einzelne
lebte das Dasein der Gemeinschaft mit, und das Dasein der andern
war zugleich das seine. Was er tat, zog die Verantwortung aller nach
sich, und damals starb ein Mensch nicht nur seelisch dahin, wenn er
ehrlos geworden, wenn sein oder der Seinen Ehrgefühl durch eigene
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
65
oder fremde Schuld tödlich verletzt worden war. Alles was man Pflicht
nennt, die Voraussetzung jedes echten Rechts, die Grund-
substanz jeder vornehmen Sitte, geht auf Ehre zurück. Seine Ehre hat
das Bauerntum wie jedes Handwerk, der Kauf mann und der Off izier,
der Beamte und die alten Fürstengeschlechter. Wer sie nicht hat,
wer „keinen Wert darauf legt", vor sich selbst wie vor seinesgleichen
anständig dazustehen, ist „gemein". Das ist der Gegensatz zur Vor-
nehmheit im Sinne jeder echten Gesellschaft, nicht die Armut, der
Mangel an Geld, wie es der Neid heutiger Menschen meint, nachdem
man jeden Instinkt für vornehmes Leben und Empfinden verloren
hat und die öffentlichen Manieren aller „Klassen" und „Parteien"
gleich pöbelhaft geworden sind.
.In die alte vornehme Gesellschaft Westeuropas, die am Ende des
1 8. Jahrhunderts an Höhe des Lebens und Feinheit der Formen etwas
erreicht hatte, das nicht mehr übertroffen werden konnte und in man-
chen Zügen schon zerbrechlich und krank zu werden begann, wuchs
noch in den vierziger Jahren das erfolgreiche englisch-puritanische
Bürgertum hinein, das den Ehrgeiz hatte, dem Hochadel in seiner
Lebensführung gleich zu werden und wenn möglich mit ihm zu
verschmelzen. Darin, in der Einverleibung immer neuer Ströme
menschlichen Lebens, zeigt sich die Kraft alter gewachsener Formen.
Aus den Plantagenbesitzern im spanischen Süd- und im englischen
Nordamerika war längst eine echte Aristokratie nachdem Vorbild spa-
nischer Granden und englischer Lords geworden. Die letztere wurde
im Bürgerkrieg von 1861 — 65 vernichtet und durch die Parvenüs von
Newyork und Ghikago mit dem Protzentum ihrer Milliarden ersetzt.
Noch nach 1870 wuchs das neue deutsche Bürgertum in die strenge
hinein. Aber das ist die Voraussetzung gesellschaftlichen Daseins:
was durch Fähigkeiten und durch innere Kraft in höhere Schichten
aufsteigt, muß durch die Strenge der Form und die Unbedingtheit
der Sitte erzogen und geadelt werden, um in den Söhnen und Enkeln
diese Form nunmehr selbst zu repräsentieren und weiterzugeben.
Eine lebendige Gesellschaft erneuert sich unaufhörlich durch wert-
volles Blut, das von unten, von außen einströmt. Es beweist die
innere Kraft der lebendigen Form, wieviel sie aufnehmen, verfei-
1 kann, ohne unsicher zu werden. Sobald aber <
Form des Lebens nicht mehr selbstverständlich ist, sobald sie
der Kritik in bezug auf ihre Notwendigkeit auch nur Gehör ver-
Notwendigkeit der Gliederung, die jeder Art Mem
lieber Tätigkeit ihren Rang im Leben des Ganzen anweist, den Sinn
für die notwendige Ungleichheit der Teile also, die mit organischer
Gestaltung identisch ist. Man verliert das gute Gewissen des eigenen
Rangesund verlernt es, Unterordnung als selbstverständlich entgegen-
zunehmen, aber in demselben Grade verlernen es, erst in Folge da-
von, die unteren Schichten, diese Unterordnung zu leisten und als
notwendig und berechtigt anzuerkennen. Auch hier beginnt, wie
jedesmal, die Revolution von oben, um dann Revolten von unten Platz
gar nicht daran gedacht hatten sie zu verlangen. Aber die Gesellschaft
beruhtauf der Ungleichheit der Menschen. Das ist eine naturhafteTat-
schöpferische und unbegabte, ehrenhafte, faule, ehrgeizige und stille
Naturen. Jede hat ihren Platz in der Ordnung des Ganzen. Je be-
deutender eine Kultur ist, je mehr sie der Gestaltung eines edlen tie-
rischen oder pflanzlichen Leibes gleicht, desto größer sind die Unter-
schiede der aufbauenden Elemente, die Unterschiede, nicht die
Gegensätze, denn diese werden erst verstandesmäßig hinein-
getragen. Kein tüchtiger Knecht denkt daran, den Bauern als seines-
gleichen zu betrachten, und jeder Vorarbeiter, der etwas leistet, ver-
bittet sich den Ton der Gleichheit von Seiten ungelernter Arbeiter.
Das ist das natürliche Empfinden menschlicher Verhältnisse.
„Gleiche Rechte 4 4 sind wider die Natur, sind die Zeichen der Ent-
artung altgewordener Gesellschaften, sind der Beginn ihres unauf-
haltsamen Zerfalls. Es ist intellektuelle Dummheit, den durch Jahr-
hunderte herangewachsenen und durch Tradition gefestigten Bau
der Gesellschaft durch etwas anderes ersetzen zu wollen. Man er-
etwas anc
nur der Tod.
Und so ist es im tiefsten Grunde auch gemeint. Man will nicht
verändern und verbessern, sondern zerstören. Aus jeder Gesellschaft
sinken bestandig entartete Elemente nach unten, verbrauchte Fa-
hochgezüchteter Geschlechter,
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
Mißratene und Minderwertige an Seele und Leib — man sehe sich
nur einmal die Gestalten in diesen Versammlungen, Kneipen, Um-
zügen und Krawallen an : irgendwie sind sie alle Mißgeburten, Leute,
die statt tüchtiger Rasse im Leib nur noch Rechthabereien und Rache
für ihr verfehltes Leben im Kopfe haben, und an denen der Mund der
wichtigste Körperteil ist. Es ist die Hefe der großen Städte, der eigent-
lichePöbel,dieUnterweltin jedem Sinne, die sich überall im bewuß-
ten Gegensatz zur großen und vornehmen Welt bildet und im Haß
gegen sie vereinigt : politische und literarische Boheme, verkommener
Adel wie Catilina und Philipp Egalitc, der Herzog von Orleans, geschei-
terte Akademiker, Abenteurer und Spekulanten, Verbrecher und Dir-
nen, Tagediebe, Schwachsinnige, untermischt mit ein paar traurigen
Schwärmern für irgendwelche abstrakten Ideale. Ein verschwomme-
nes Rachegefühl für irgendein Pech, das ihnen das Leben verdarb,
die Abwesenheit aller Instinkte für Ehre und Pflicht und ein hem-
mungsloser Durst nach Geld ohne Arbeit und Rechten ohne Pf lichten
führt sie zusammen. Aus diesem Dunstkreis gehen die Tageshelden
aller Pöbelbewegungen und radikalen Parteien hervor. Hier erhält
das Wort Freiheit den blutigen Sinn sinkender Zeiten. Die Freiheit
von allen Bindungen der Kultur ist gemeint, von jeder Art von
Sitte und Form, von allen Menschen, deren Lebenshaltung sie in
Armut, schweigende Pflichterfüllung, Entsagung im Dienst einer
Aufgabe oder Überzeugung, Größe im Tragen eines Schicksals, Treue,
Ehre, Verantwortung, Leistung, alles das ist ein steter Vorwurf für
die „Erniedrigten und Beleidigten".
Denn, es sei noch einmal gesagt, der Gegensalz von vornehm ist nicht
arm, sondern gemein. Das niedrige Denken und Empfinden dieser
Unterwelt bedient sich der entwurzelten, in all ihren Instinkten un-
sicher gewordenen Masse der großen Städte, um seine eigenen Ziele
und Genüsse der Rache und Zerstörung zu erreichen. Deshalb wird
dieser ratlosen Menge ein „Klassenbewußtsein" und ...Klassenhaß' 4
durch ununterbrochenes Reden und Schreiben eingeimpft, deshalb
werden ihr die führenden Schichten, die „Reichen", die „Mächtigen",
in gerader Umkehrung ihrer wirklichen Bedeutung als Verbrecher und
Ausbeuter gezeichnet, und endlich bietet man sich ihr als Retter
und Führer an. x\lle „Volksrechte", die oben aus krankem Gewissen
und haltlosem Denken rationalistisch beschwatzt wurden» werden nun
als selbstverständlich von unten, von den „Enterbten" gefordert, nie-
ias Volk, denn sie sind immer denen gegeben worden, die
ran gedacht hatten sie zu verl
anzufangen wußten. Sie sollten da3 auch gar nicht, denn diese Rechte
waren nicht für das „Volk" bestimmt, sondern für die Hefe der sich
selbst ernennenden „Volksvertreter** , aus der sich nun ein radikaler
Parteiklüngel bildet, der den Kampf gegen die gestaltenden Mächte
der Kultur als Gewerbe betreibt und die Masse durch das }
So entsteht der Nihilismus, der abgründige Haß des Proleten
gegen die überlegene Form jeder Art, gegen die Kultur als deren In-
Ergebnis. Daß jemand Form hat, sie beherrscht, sich in ihr wohl
fühlt, während der gemeine Mensch sie als Fessel empfindet, in der
er sich nie frei bewegen wird, daß Takt, Geschmack, Sinn für Tra-
dition Dinge sind, die zum Erbgut hoher Kultur gehören und Er-
ziehung voraussetzen, daß es Kreise gibt, in denen Pflichtgefühl und
Entsagung nicht lächerlich sind, sondern auszeichnen, das erfüllt
ihn mit einer dumpfen Wut, die in früheren Zeiten sich in die
Winkel verkroch und dort nach Art de3 Thersites geiferte, heute
aber breit und gemein als Weitanschauung über allen weißen
meisten wissen gar nicht, in welchem Grade sie selbst es sind. Die
schlechten Manieren aller Parlamente, die allgemeine Neigung, ein
nicht sehr sauberes Geschäft mitzumachen, wenn es Geld ohne Arbeit
verspricht, Jazz und Niggertänze als seelischer Ausdruck aller Kreise,
der Frauen, die Sucht von Literaten, in Ro-
nehmen Gesellschaft unter allgemeinem Beifall lächerlich zu machen,
und der schlechte Geschmack bis in den hohen Adel und alte Fürsten-
häuser hinein, sich jedes gesellschaftlichen Zwanges und jeder alten
Sitte zu entledigen, beweisen, daß der Pöbel tonangebend geworden
ist. Aber während man hier über die vornehme Form und die alte
Sitte lächelt, weil man sie nicht mehr als Imperativ in sich trägt, und
ohne zu ahnen, daß es sich hier um
fesseln sie dort den Haß, der
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
was nicht jedem zugänglich ist, was emporragt und endlich hinunter
soll. Nicht nur Tradition und Sitte, sondern jede Art von verfeinerter
Kultur, Schönheit, Grazie, der Geschmack sich zu kleiden, die Sicher-
heit der Umgangsformen, die gewählte Sprache, die beherrschte Hal-
tung des Körpers, die Erziehung und Selbstzucht verrät, reizen das
gemeine Empfinden bis aufs Blut. Ein vornehm gebildetes Gesicht,
ein schmaler Fuß, der sich leicht und zierlich vom Pflaster hebt,
widersprechen aller Demokratie. Das otium cum dignitate statt
von Boxkämpfen und Sechstagerennen, die Ken-
edle Kunst und alte Dichtung, selbst die Freude
an einem gepflegten Garten mit schönen Blumen und sel-
tenen Obstarten ruft zum Verbrennen, Zerschlagen, Zertram-
peln auf. Die Kultur ist in ihrer Überlegenheit der Feind. Weil
man ihre Schöpfungen nicht verstehen, sie sich innerlich nicht an-
eignen kann, weil sie nicht „für alle" da sind, müssen sie vernichtet
Und das ist die Tendenz des Nihilismus: Man denkt nicht daran, die
Masse zur Höhe echter Kultur zu erziehen; das ist anstrengend und
unbequem und vielleicht fehlt es auch an gewissen Voraussetzungen.
Im Gegenteil: Der Bau der Gesellschaft soll eingeebnet wer-
den bis herab auf das Niveau des Pöbels. Die allgemeine
Gleichheit soll herrschen: alles soll gleich gemein sein. Die gleiche
Art, sich Geld zu verschaffen und es für die gleiche Art von Ver-
gnügen auszugeben: panem et circenses — mehr braucht man nicht
und mehr versteht man nicht. Überlegenheit, Manieren, Geschmack,
jede Art von innerem Rang sind Verbrechen. Ethische, religiöse,
nationale Ideen, die Ehe um der Kinder willen, die Familie, die
Staatshoheit sind altmodisch und reaktionär. Das Straßenbild von
Moskau zeigt das Ziel, aber man täusche sich nicht: Es ist nicht der
von Moskau, der hier gesiegt hat. Der Bolschewismus ist in
teuropa zu Hause, und zwar, seit die englisch-materialistische
lehrige Schüler verkehrten, im Jakobinismus des Kontinents einen
wirksamen Ausdruck gefunden hatte. DieDemokratie des 1 9. Jahr-
hunderts ist bereits Bolschewismus; sie besaß nur noch nicht
den Mut zu ihren letzten Folgerungen. Es ist nur ein Schritt vom Ba-
stillesturm und der die allgemeine Gleichheit befördernden Guillo-
tine zu den Idealen und Straßenkämpfen von i848, dem Jahr des
kommunistischen Manifest», und ein zweiter von dort bis zum Sturz
ten Zarentums. Der Bolschewismus droht uns
it, sondern er beherrscht uns. Seine Gleichheit ist die Gieich-
setzung des Volkes mit dem Pöbel, seine Freiheit ist die Befreiung
von der Kultur und ihrer Gesellschaft.
Zu einer hohen Kultur gehört endlich noch etwas, und zwar mit ]
wendigkeit, was gemeine Naturen in Delirien von Neid und Haß aus-
brechen laßt: Der Besitz im ursprünglichen Sinne, der alte und
dauerhafte Besitz, der von den Vätern her ererbt oder in Jahrzehnten
strenger und entsagungsvoller eigener Arbeit herangewachsen ist und
für Söhne und Enkel gepflegt und vermehrt wird. Reichtum ist
nicht nur eine Voraussetzung, sondern vor allem die Folge und der
Ausdruck von Überlegenheit, und nicht nur durch die Art, wie er
erworben wurde, sondern auch durch die Fähigkeit ihn als Element
echter Kultur zu gestalten und zu verwenden. Es muß endlich ein-
mal offen gesagt werden, obwohl es der Gemeinheit dieser Zeit
ins Gesicht schlägt: Besitzen ist kein Laster, sondern eine Be-
gabung, deren die wenigsten fähig sind. Auch sie ist das Ergebnis
einer langen Zucht durch gehobene Geschlechter hin, zuweilen, bei
den Gründern aufsteigender Familien, durch Selbsterziehung auf
der Grundlage starker Rasseeigenschaften erworben, beinahe nie
durch urwüchsige Genialität allein vorhanden, ohne alle Voraus-
setzungen von erziehender Umgebung und vorbildlicher Vergangen-
heit. Es kommt nicht darauf an, wieviel, sondern was und in wel-
Man kann Besitz als Mittel zur Macht wollen und haben. Das ist die
Unterordnung von wirtschaftlichen Erfolgen unter politische Ziele
Lenken von Staaten Geld gehört. So hat es Cäsar aufgefaßt, als er
Gallien eroberte und plünderte, und in unseren Tagen Gecil Rhodes,
als er die südafrikanischen Minen in seine Hand brachte, um hier ein
Reich nach seinem persönlichen Geschmack zu gründen. Kein armes
Volk kann große politische Erfolge haben, und wenn es Armut für
DIE WEISSE WELTREVOLUTION 71
und Reichtum für Sünde hält, so verdient es auch keine,
sitz ist eine Waffe. Das war auch der letzte, kaum ganz bewußte
lischer See- und Landfahrten : Mit den erbeuteten Schätzen
und warb ein Gefolge. Eine königliche Frei-
aigkeit kennzeichnet diese Art des Willens zur Macht. Sie ist
das Gegenteil von Habgier und Geiz wie von parvenuhafter Ver-
schwendung und von weibischer Nächstenliebe. Aber davon ist hier
nicht die Rede. Ich spreche vom Besitzen, insofern es die Tradition
einer Kultur in sich hat. Es bedeutet innere Überlegenheit : es zeich-
net vor ganzen Klassen von Menschen aus. Es gehört nicht viel
dazu: Ein kleiner gut gehaltener Bauernhof, ein tüchtiges Hand-
werk von gutem Ruf, ein winziger Garten, dem man die Liebe an-
sieht, mit der er gepflegt wird, das saubere Haus eines Bergmanns,
ein paar Bücher oder Nachbildungen alter Kunst. Worauf es ankommt
ist, daß man diese Dinge in eine persönliche Welt verwandelt, mit
seiner Persönlichkeit durchdringt. Echter Besitz ist Seele und erst
insofern echte Kultur. Ihn auf seinen Geldwert hin abschätzen ist
irgendwie ein Mißverständnis oder eine Entweihung. Ihn nach
dem Tode des Besitzers teilen ist eine Art Mord. Das war
die germanische Auffassung vom Erbe: Es war der Idee nach eine
unauflösliche Einheit, von der Seele des Verstorbenen durchdrun-
versteht das? Wer hat heute noch Augen und Gefühl für den inner-
lichen, beinahe metaphysischen Unterschied von Gut und Geld? 1
Echte Güter sind etwas, mit dem man innerlich verwachsen ist, wie
ein germanischer Krieger mit seinen Waffen, die er als Eigen-
tum mit ins Grab nimmt, wie ein Bauer mit seinem Hof, auf dem
schon die Väter gearbeitet haben, ein Kaufmann alten Schlages mit
der Firma, die den Namen der Familie trägt, ein echter Handwerker
mit seiner Werkstatt und seinem Beruf: etwas, dessen Wert
für den Besitzer nicht in Geld auszudrücken ist, sondern in einer
Verbundenheit besteht, deren Zerstörung ans Leben greift. Deshalb
ist wirklicher „Besitz* 'im tieferen Sinne immer unbeweglich. Er haftet
am Besitzer. Er besteht aus Dingen und ist nicht in ihnen „angelegt" 2
wie die bloßen Vermögen, die nur quantitativ zu bestimmen und ganz
eigentlich heimatlos sind. Deshalb streben aufsteigende Familien im-
1 Unt. d. Abendl. II, S. »97 ff. « Polit. Schriften S. i38ff., 269.
72
DIE WEISSE WELT REVOLUTION
mer nach Grundbesitz als der Urform des unbeweglichen Gutes, und
sinkende suchen ihn in Bargeld zu verwandeln. Auch darin liegt der
Unterschied von Kultur und Zivilisation.
„Geld" aber ist ein Abstraktum, 1 eine reine Wertmenge im Sinne
des Marktes, die nur mathematisch an irgendeiner Währung ge-
vom Glücksspiel und Einbruchsdiebstahl bis zu Geschäften mit
Politik und zur Börsenspekulation mit Summen, die man gar nicht
hat, und andererseits es jederzeit hinauswerfen zu können, ist sein
einziger Reiz. Darin sind Proleten und Parvenüs einig, und auch
darin besteht eine innere Verwandtschaft zwischen Bolschewismus
und Amerikanismus. Was ein zu Geld gekommener radikaler Partei-
führer oder Spekulant „hat", soll gezeigt werden. Die Schlösser
reichgewordener Jakobiner, geriebener Finanzleute seit den fran-
zösischen Steuer pächtern des 18. Jahrhunderts und nordamerika-
im alten Rom, wo Martial, Juvenal, Petronius über diese Zurschau-
stellung zu schnell erworbener Geldmassen spotteten. Natürlich gibt
man alles für sich selbst aus, auch wenn man etwas stiftet, ver-
geudet oder andern gönnerhaft in die Tasche steckt: aber der Zu-
schauer ist das Wesentliche. Die ganze Welt soll es wissen, sonst
hat es keinen Sinn. Man genießt das Geldausgeben als solches. Man
will den Mäzen spielen, weil man davon gehört hat, aber man bringt
es nur zu dem, was man in München eine Würzen nennt, zum gön-
nerhaften Protzen, zu einer Kopie des römischen Trimalchio. Man
denen nur der Preis wichtig ist. Der gesamte Kunsthandel lebt heute
wie zur Zeit Casars 2 davon. Aber die sinnlosesten „Verschwender'*
saubere Gewinne und Parteigehälter vertrunken und verspielt wer-
den, nicht in den Bürgerhäusern alter Patriziate und auf den Land-
gütern alter Familien. Aber weil man die Kultur, die Tradition
des Genießens, die aus wenigem viel zu machen versteht, nicht hat
und nicht mit Geld erwerben kann, so frißt trotz alledem der Neid auf
diese Art von Überlegenheit an allen Menschen von gemeiner Natur.
(1920), III, S. 97— 117.
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
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Es muß immer wieder gesagt werden, gerade heute, wo in Deutsch-
land „nationale* * Revolutionäre von den Idealen allgemeiner Armut
und Armseligkeit schwärmen wie ein Bettelmönch, im schönen Ein-
verständnis mit den Marxisten den Reichtum jeder Art für ein Ver-
brechen und Laster erklären und gegen alles zu Felde ziehen, was
diese Überlegenheit in Dingen von hoher Kultur hat, was durch
Fähigkeit des Erwerbens, Erhaltens und Verwendens von Besitz
andere überragt — und zwar aus Neid auf diese Fähigkeiten, die
ihnen selbst gänzlich fehlen: Hohe Kultur ist mit Luxus und
Reichtum untrennbar verbunden. Luxus, das selbstverständ-
liche Sichbewegen unter Dingen von Kultur, die seelisch zur Persön-
lichkeit gehören, ist die Voraussetzung aller schöpferischen Zeiten
zum Beispiel für das Entstehen einer großen Kunst, die es heute
auch darum nicht mehr gibt, weil seit dem vorigen Jahrhundert das
wirkliche Kunst! eben erloschen ist, das sich stets in der Gesell-
schaft abgespielt hat, zwischen Kennern und Schöpfern bedeutender
Werke und nicht zwischen Kunsthändlern, Kunstkritikern und Snobs,
dem „Volk" oder gar dem „Publikum". Und Reichtum, der sich in
wenigen Händen und in führenden Schichten sammelt, ist unter
anderem die Voraussetzung für die Erziehung von Generationen
führender Köpfe durch das Vorbild einer hochentwickelten Um-
gebung, ohne die es kein gesundes Wirtschaftsleben und keine Ent-
wicklung politischer Fähigkeiten gibt. Ein Erfinder kann arm sein,
aber in einem bettelhaften Volk kommt seine Begabung nicht durch
große Aufgaben zur Reife und oft nicht einmal zum Bewußtsein
ihrer selbst. Und nicht anders steht es mit staatsmännischen und
künstlerischen Anlagen. Deshalb wurden die Deutschen seit i648
das weltfremde Volk der Theoretiker, Dichter und Musiker, denn
allein dazu braucht man kein Geld. Sie verwechselten, und ver-
wechseln heute noch, romantische Einbildungen mit wirklicher
Politik, denn das kostet nichts — außer dem Erfolg. Aber Reichtum
ist ein relativer Begriff . Was in England um 1770 geringen Wohlstand
bedeutete, war in Preußen sehr reich. Und ebenso Armut : Der preu-
ßische Adel warinseiner guten Zeit arm und deshalb im Gegensatz zum
englischen arm an staätsmännischen Begabungen, die zu ihrer Ausbil-
dung, von seltenen Ausnahmen abgesehen, das Leben in der großen
Welt voraussetzen; er war arm, aber er empfand das nicht als
DIE
Armut. 1 Der Mangel an bedeutendem Besitz oder Einkommen ist
kein Unglück oder Elend, so wenig ihr Vorhandensein Glück im all-
über sie, die Empfindung von Unterschieden als Gegensätze, der
Neid macht ihn dazu. Damit man sich elend fühle, muß einem das
bescheidene Dasein erst verekelt werden, und das ist die Aufgabe
der Demagogen aller Zeiten gewesen. Im Nürnberg Albrecht Dürers
etwa freute sich der einfache Mann ohne Neid über die Pracht der
höheren Stände. Etwas von dem Glanz der Vaterstadt fiel auch auf
ihn und er bedachte, daß seine Lebenshaltung davon abhing und
daß er sich in der der anderen niemals glücklich fühlen würde. Ge-
rade der unverbildete Verstand von Bauernknechten und
werkern ist sich bewußt, daß Besitz vor allem Verantwortung,
und Arbeit bedeutet. Aber seit dem 18. Jahrhundert,
Menschenschicksal ist der Neid planmäßig gezüchtet worden, der
dem fleißigen und tüchtigen Arbeiter von Natur ganz fernliegt, und
zwar von der Unterwelt der demokratischen Berufspolitiker und
Schreiber des Tages wie Rousseau, die daran verdienten oder ihren
kranken Gefühlen Genüge taten. Die Gier nach dem Eigentum der
andern, das als Diebstahl gezeichnet wird, ohne daß man die damit
verbundene Arbeit und Begabung achtet oder beachtet, wird zur
Weltanschauung ausgebildet und hat eine entsprechende Politik
von unten zur Folge.
Und erst damit beginnt die Revolution der Gesellschaft eine wirt-
schaftliche Tendenz zu erhalten, die in agitatorischen Theorien zum
Ausdruck kommt, nicht in bezug auf Organisation und Ziele der
und Erträge. Es werden Gegensätze zwischen reich und arm ge-
schaffen, um zwischen ihnen den Kampf zu eröffnen. Man will
„alles" haben, was da ist, was sich zu Geld machen läßt, durch Ver-
teilung oder Gemeinbesitz, und zerstören, was man nicht haben
kann, damit es die anderen nicht weiter besitzen. Aus diesem Fühlen
1 Selbstverständlich auch nicht als Vorzug:, was man manchen Tröpfen immer wieder
sagen muß. Lautes Lob der Armut ist genau so verdächtig wie Schmähen des Reich -
tums: Dahinter
machen.
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
75
deren sich selbst ernennenden Wortführern ist alles entstanden, was
in der Antike gleiche Verteilung der Guter und was heute Klassen-
kampf und Sozialismus heißt. Es ist der Kampf zwischen unten und
oben in der Gesellschaft, der geführt wird zwischen den Führern
der Nationen und den Führern aus der Unterweit, denen die Klassen
der Handarbeiter nur Objekte und Mittel zu eigenen Zwecken sind,
und in welchem die altgewordene Gesellschaft nur eine schwäch-
liche Verteidigung, ihre geborenen Feinde aber einen schonungs-
losen Angriff führen, bis der heraufkommende Gäsarismus der Dik-
16
Damit sind die Voraussetzungen gewonnen, um die „weiße" Re-
volution in ihrem vollen Umfang, ihren Zielen, ihrer Dauer und
ihrer logischen Entwicklung zu zeichnen, was bisher niemand gewagt
hat und was vielleicht auch nicht möglich war, bevor sie mit den
Folgen des ersten Weltkrieges in die entscheidenden Jahrzehnte trat.
Die Skepsis, die Voraussetzung des historischen Blicks, des Unter-
sichsehens der Geschichte — wie die Menschenverachtung die not-
wendige Voraussetzung tiefer Menschenkenntnis ist — steht nicht
am Anfang der Dinge.
Diese Revolution beginnt nicht mit dem materialistischen Soziaiis-
mus des 19. Jahrhunderts und noch viel weniger mit dem Bol-
schewismus von 19 17. Sie ist seit der Mitte des 18. Jahrhunderts „in
Permanenz 41 , um eine ihrer geläufigen Phrasen zu gebrauchen. Da-
malsbegann die rationalistische Kritik, die sich stolz Philosophie der
Aufklarung 1 nannte, ihre zerstörende Tätigkeit von den theologi-
schen Systemen des Christentums und der überlieferten Welt-
anschauung der Gebildeten, die nichts war als Theologie ohne den
der Gesellschaft, zuletzt den gewachsenen Formen der Wirtschaft
zuzuwenden. Sie begann die Begriffe Volk, Recht und Regierung
ihres geschichtlichen Gehaltes zu entleeren und gestaltete den Unter-
schied von reich und arm ganz materialistisch zu einem morali-
* Unt. d. Abendl. II, S. 3 7 4ff.
76 DIE WEISSE WELTREVOLUTION
sehen Gegensatz, der mehr agitatorisch behauptet als ehrlich ge-
glaubt wurde. Hierher gehört die Nationalökonomie, die als
materialistische Wissenschaft um 1770 von A. Smith im Kreise
von Hartley, Priestley, Mandeville und Bentham begründet wurde
und die sich anmaßte, die Menschen als Zubehör zur wirtschaft-
lichen Lage zu betrachten 1 und die Geschichte von den Begriffen
Auffassung der Arbeit nicht als Lebensinhalt und Beruf, sondern
als Ware, mit welcher der Arbeitende Handel treibt. 2 All die Ge-
schichte gestaltenden Leidenschaften und schöpferischen Züge star-
ker Persönlichkeiten und Rassen sind vergessen, der auf Befehlen
und Herrschen, auf Macht und Beute gerichtete Wille, der Erfinder-
folge und auf der anderen Seite der Neid, die Faulheit, die giftigen
Gefühle der Minderwertigen. Es bleiben nur die „Gesetze" des Gel-
des und Preises, die in Statistiken und graphischen Kurven ihren
Ausdruck finden.
Daneben beginnt der Flagellantismus der sinkenden, allzu geistreich
gewordenen Gesellschaft, die zu ihrer eigenen Verhöhnung Beifall
klatscht: „Figaros Hochzeit" des Herrn ..de" Beaumarchais, die dem
königlichen Verbot zum Trotz im Schlosse Gennevilliers vor dem
grinsenden Hofadel aufgeführt wurde, die Romane des Herrn „de" 3
verschlungen worden sind, die Zeichnungen Hogarths, Gullivers
Reisen und Schillers „Rauber" und „Kabale und Liebe", die einzi-
das durch ihr Publikum, das durchaus nicht den unteren Schichten
angehörte. 4 Was in den „durchgeistigten" Kreisen der hohen Gesell-
schaft selbst geschrieben wurde, die Briefe des Lord Ghesterfield,
die Maximen des Herzogs von Larochefoucauld, das Systeme de la
* Unt. d. Abend!. II, S. 583 ff. 2 Polit. Schriften S. 79 ff.
3 Nicht nur diese kleinbürgerlichen Hochstapier und Literaten, die Söhne des Uhrmachers
Caron und des Steuerbeamten Arouet, sondern auch „de" Robespierre hat, noch zur
Zeit der Nationalversammlung, widerrechtlich den Adelstitel geführt. Sie wollten zur
Gesellschaft gerechnet werden, die sie zerstörten: ein charakteristischer Zug aller Revo-
lutionen dieser Art.
* Ebenso die sozialistischen Stücke und Romane der achtziger Jahre und die bolsche-
wistischen nach 19 18, die in allen Großstädten Westeuropas sich bei denen bezahlt
machten, gegen die ihr Angriff gerichtet war.
nature des Barons Holbach, war außerhalb derselben schon infolge
der geistreichen Diktion unverständlich, ganz abgesehen davon, daß
und Schreiben nicht einmal in den mittleren Schichten ali-
waren.
so besser verstanden die Berufsdemagogen der städtischen Unter-
die nichts gelernt hatten als Reden halten und Pamphlete
schreiben, daß sich aus diesen Schriften vortreffliche Schlagworte
für die Agitation unter der Masse gewinnen ließen. In England began-
nen die Unruhen 1762 mit dem Fall Wilkes\ der wegen Beleidigung
der Regierung durch die Presse verurteilt und daraufhin immer wieder
ins Unterhaus gewählt wurde. In Versammlungen und bei planmäßi-
gen Krawallen (riots) war „Wilkes und Freiheit" der Ruf, mit dem
wurden. Damals hat Marat sein erstes Pamphlet: „The chains of
slavery" in England und für Engländer geschrieben (1774). Der Abfall
der amerikanischen Kolonien ( 1776), ihreErklärung der allgemeinen
Menschenrechte und der Republik, ihre Freiheitsbäume und Tugend-
bündler sind letzten Endes von englischen Bewegungen dieser Jahre
ausgegangen. 1 Von 1779 an entstehen die Klubs und geheimen Ge-
sellschaften, die das ganze Land durchsetzten, eine Revolution an-
strebten und seit 1790, die Minister Fox und Sheridan an der Spitze,
dem Konvent und den Jakobinern Glückwunschadressen, Briefe und
Ratschlage sandten. Wäre die herrschende englische Plutokratie nicht
sehr viel energischer gewesen als der feige Hof von Versailles, so
wäre die Revolution in London noch früher ausgebrochen als in
Paris. 2 Die Pariser Klubs, vor allem die Feuillants und Jakobiner,
sind einschließlich ihrer Programme, ihrer Verzweigung über ganz
Frankreich und der Form ihrer Agitation nichts als Kopien der eng-
ihrer Mitglieder durch Citizen und das neugebildete citizeness über-
setzt und die Phrase Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wie die
1 Die Lpy alisten, die nicht republikanisch gesinnten Amerikaner, wanderten daraufhin
mehr oder weniger freiwillig nach Kanada aus.
2 In Deutschland kam es nicht dazu, weil eine eigentliche Hauptstadt mit dem Zubehör
von Agitatoren, Winkelliteraten und Berufsverbrechern fehlte. Die Ideologen waren da.
Man braucht nur an Georg Forster und andere zu erinnern, die in Mainz und dann
in Paris als Jakobiner auftraten und für ihre Ansicht starben. 1793 mußten die poli-
tischen Klubs nach englisch-französischem Vorbild durch ein Reichsgesetz verboten
werden.
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
Könige als Tyrannen übernommen. Seitdem und
die Form der Vorbereitung von Revolutionen ge-
Bezeichnung
heute noch i
und Versammlungsfreiheit als Mittel dafür, die Kernforderung
des politischen Liberalismus, des Freiseinwollens von den ethischen
Bindungen alter Kultur, ein Verlangen, das nichts weniger als all-
gemein war, sondern von den Schreiern und Schreibern so bezeich-
net wurde, die davon leben und die privaten Zwecke dieser Freiheit
„Gebildeten'", die Spießbürger des 19. Jahrhunderts, die Opfer
dieser Freiheit also, erhoben sie zu einem Ideal, das jeder Kritik
seiner Hintergründe entzogen blieb. Heute, wo wir nicht nur die Hoff-
nungen des 18., sondern auch die Folgen des 20. Jahrhunderts vor
uns sehen, läßt sich endlich darüber reden. Freiheit wovon, wofür?
Diese Freiheiten haben sich überall als das herausgestellt, was sie
sind: Mittel des Nihilismus zur Einebnung der Gesellschaft, Mittel
der Unterweit, um der Masse der großen Städte diejenige Meinung
einzuimpfen — eine eigene hat sie nicht — , die für diesen Zweck die
erfolgversprechendste ist. 1 Deshalb werden diese Freiheiten — auch
das allgemeine Wahlrecht gehört dazu — in dem Augenblick wieder
hekämpft, beseitigt und in ihr Gegenteil verkehrt, wo sie ihren
Zweck erfüllt und ihren Nutznießern die Gewalt in die Hände ge-
geben haben, im jakobinischen Frankreich von 1793, im bolschewi-
stischen Rußland und in der Gewerkschaftsrepublik Deutschland
seit 1918. Wann gab es hier mehr Zeitungsverbote. 1820 oder 1920?
siheit war immer die Freiheit derjenigen, welche die Macht er-
1, nicht beseitigen wollten.
Dieser aktive Liberalismus schreitet folgerichtig vom Jako-
binismus zum Bolschewismus fort. Das ist kein Gegensatz des
Denkens und Wollens. Es ist die Früh- und die Spätform, Anfang
und Ende einer einheitlichen Bewegung. Und zwar beginnt sie um
1770 mit sentimentalen „sozialpolitischen" Tendenzen : Der Bau der
Gesellschaft nach Stand und Rang soll zerstört werden; man will zur
„Natur", zur gleichförmigen Horde zurück. An Stelle des Standes soll
das treten, was nicht von Stand ist, Geld und Geist, Kontor und Ka-
theder, die Rechner und Schreiber, an Stelle des formvollen Lebens
das Leben ohne Form, ohne Manieren, ohne Pf lichten, ohne Distanz.
Erst um i8&o geht diese sozialpolitische Tendenz in eine „wirt-
schaftspolitische" über. Statt gegen den Vornehmen wendet man sich
gegen den Besitzenden, vom Bauern bis zum Unternehmer. Nicht
mehr Gleichheit der Rechte wird den Anhängern der Bewegung ver-
sprochen, sondern das Vorrecht der Besitzlosen, nicht mehr Frei-
heit für alle, sondern die Diktatur des großstädtischen Pro-
letariats, der „Arbeiterschaft* 4 . Aber das ist kein Unterschied der
Weltanschauung — die war und blieb materialistisch und utilitari-
stisch — j sondern einzig und allein der revolutionären Methode : Die
berufsmäßige Demagogie mobilisiert einen anderen Teil der Volker
Bauern und Handwerker gewandt, in England wie in Frankreich.
Die Cahiers der ländlichen und kleinstädtischen Abgeordneten von
1789, welche den „Aufschrei der Nation" darstellen sollten, waren
von berufsmäßigen Schreiern 1 verfaßt und von den Wählern zum
großen Teil gar nicht begriffen worden. Diese Schichten hatten zu-
viel wurzelhafte Tradition, um als Mittel und Waffe unbedingt
brauchbar zu sein. Ohne den Pöbel der östlichen Vororte wäre die
Herrschaft des Terrors in Paris nicht möglich gewesen. Man brauchte
die stets gegenwärtigen Fäuste der großen Stadt. Es ist nicht wahr,
daß es sich damals um „wirtschaftliche" Nöte gehandelt hätte.
Steuern und Zölle waren Hoheitsrechte. Das allgemeine Wahlrecht
sollte ein Schlag gegen die Gesellschaftsordnung sein. Daher der
Mißerfolg des Konvents: Bauerntum und Handwerk waren für Berufs-
Sie waren fleißig und hatten etwas gelernt; außerdem
wollten sie den Hof oder die Werkstatt den Söhnen hinterlassen:
Programme und Schlagworte wirkten hier nicht auf die Dauer.
Erst um i84o fand die sich gleichförmig fortentwickelnde schrei-
bende und redende Demagogie Westeuropas 2 ein besseres Mittel für
1 A.Wahl, Studien zur Vorgeschichte der französischen Revolution (1901), S. a4.
2 Die bekannten Führer gehören sämtlich dem „Bürgertum" an. Owen, Fourier,
waren „Unternehmer", Marx und Lassalle „Akademiker"; schon Danton und
pierre waren Juristen, Marat Mediziner gewesen,
nalisten. Es ist kein einziger Arbeiter darunter.
Der Rest sind Literaten und Jour-
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
ihre Zwecke: die entwurzelte Masse, die sich auf der nordeuropä-
ischen Kohle ansammelte, 1 den Typus des Industriearbeiters. Man
muß sich endlich über eine Tatsache klar werden, die im Nebel der
parteipolitischen Kämpfe gründlich verborgen geblieben ist: Nicht
das „wirtschaftliche Elend", das der „Kapitalismus" über das „Pro-
letariat" gebracht hat, führte zur Entstehung des Sozialismus, son-
dern die Berufsagitation hat diese „zielbewußte" Anschauung der
Dinge geschaffen, wie sie vor 1789 das vollkommen falsche Bild
verelendeten Bauernstandes zeichnete, 2 und zwar lediglich
hoffte. Und das gebildete und halbgebildete Bürgertum hat daran
geglaubt und tut es heute noch. Das Wort „Arbeiter" wurde seit
i848 mit einem Heiligenschein umgeben, ohne daß man über seinen
Sinn und die Grenzen seiner Anwendung nachdachte. Und die „Ar-
beiterklasse", die es in der wirtschaftlichen Struktur keines einzigen
Schneidergeselle, der Metaliarbeiter, Kellner, Bankbeamte, Acker-
knecht und Straßenkehrer miteinander zu tun? — wird zu einer
weißen Völker in zwei Fronten gespalten hat, von denen die eine ein
Heer von Parteifunktionären, Massenrednern, Zeitungsschreibern
vate Ziele einstehen muß. Das ist der Zweck ihres Daseins. Der Ge-
ensatz von Kapitalismus und Sozialismus — Worte, um deren De-
tion sich seitdem eine ungeheure Literatur vergebens bemüht
denn man definiert Schlagworte nicht — ist nicht aus irgend-
einer Wirklichkeit abgeleitet, sondern lediglich eine aufreizende
Konstruktion. Marx hat sie in die Verhältnisse der englischen Ma-
schinenindustrie hineingetragen, nicht herausgelesen, und selbst das
war nur möglich, wenn er vom Vorhandensein aller Menschen ab-
sah, die mit Landwirtschaft, Handel, Verkehr und Verwaltung be-
schäftigt waren. Dies Bild der Zeit hatte so wenig mit der Wirk-
lichkeit und deren Menschen zu tun, daß sich sogar theoretisch der
Süden vom Norden getrennt hat: die Grenze liegt etwa auf der Linie
1 Polit. Schriften S.33iff.
2 Das bald darauf aufgegeben wurde, weil es nicht die erhoffte Wirkung hatte. In
Wirklichkeit ging es den französischen Bauern unter Ludwig XVI. besser als
sonst in Europa. 3 Unt. d. Abendl. II, S. 696 f.
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
81
Lyon-Mailand. Im romanischen Süden, wo man wenig zum Leben
braucht und wenig arbeitet, wo es keine Kohle und deshalb keine
Großindustrie gibt, wo man rassemäßig anders denkt und fühlt,
entwickelten sich die anarchistischen und syndikalistischen Tenden-
zen, deren Wunschbild die Auflösung der großen Voiksorganismen
in staatlose, kleine, sich selbst genügende Gruppen, Beduinen-
schwärme des Nichtstuns ist. Im Norden aber, wo der strenge Winter
die strengere Arbeit fordert und sie ebenso möglich als notwendig
macht, wo zum Kampf gegen den Hunger seit Urzeiten der gegen
die Kälte tritt, entstehen aus dem germanischen, auf Organisation
im Großen gerichteten Willen zur Macht die Systeme des auto-
ritären Kommunismus mit dem Endziel einer proletarischen
Diktatur über die ganze Welt. Und erst weil im Laufe des 19. Jahr-
hunderts die Kohlenfelder dieser nördlichen Länder eine Ansamm-
lung von Menschen und von nationalem Reichtum von einer bis
dahin unerhörten Größenordnung veranlaßt haben, hat auch die
Demagogie in ihnen und über ihre Grenzen hinaus eine ganz andere
Stoßkraft erhalten. Die hohen Löhne des englischen, deutschen und
amerikanischen Fabrikarbeiters siegten, gerade weil sie nichts weni-
ger als „Hungerlöhne'* waren, über die niedrigen der Landarbeiter
im Süden, und erst infolge dieser „kapitalistischen" Überlegenheit
der Parteimittel hat der Marxismus über die Theorien von Fou-
rier und Proudhon gesiegt. Das Bauerntum wird von ihnen allen
nicht mehr beachtet. Es hat als Waffe für den Klassenkampf
wenig Wert, schon weil es auf dem Straßenpflaster nicht jeder-
zeit zur Verfügung steht und weil seine Traditionen von Besitz und
Arbeit den Absichten der Theorie widersprechen, und es wird des-
halb von den Schlagworten des kommunistischen Programms igno-
fältiger man ist, desto weniger bemerkt man, was alles außerhalb
dieses Schemas bleibt.
Jede Demagogie gestaltet ihr Programm nach dem Teil der Nation,
auf dessen Mobilmachung sie für ihre Zwecke rechnet. In Rom war
es von Flaminius bis auf C. Gracchus die italische Bauernschaft,
die Land haben wollte, um es zu bestellen. Daher die Aufteilung des
gallischen Gebietes südlich vom Po durch den ersten und die
82 DIE WEISSE WELTREVOLU TJÖN
Aber Gracchus ging zugrunde, weü die Bauern, die in Masse iut Ab-
stimmung nach Rom gewandert waren, der Ernte wegen wieder nach
Ctnna und CatOina auf die Sklaven und vor allem statt auf die
Tagelöhner, wie es m den griechischen Städten seit Kleon
i Straßen Roms herumlungerte und gefüttert und unterhalten sein
et circenses! Gerade weil man sich ein Jahrhundert
für sich iu gewinnen, sind sie zu einem Umfang an-
gewachsen, der noch nach Casar eine ständige Gefahr für die Re-
gierung des Weltreiches bildete. Je minderwertiger ein solches Ge-
folge, desto brauchbarer ist es. Und deshalb hat der Bolschewis-
mus seit der Pariser Kommune von 1871 weit weniger auf den ge-
lernten fleißigen und nüchternen Arbeiter zu wirken gesucht, der an
sindel der großen Städte, das in jedem Augenblick bereit ist zu plün*-
dern und zu morden. Deshalb haben in Deutschland von 1 918 bis in
die Jahre der großen Arbeitslosigkeit hinein die regierenden Gewerk-
schaftsparteien sich wohl gehütet, zwischen Arbeitslosen und Ar-
beitsscheuen einen gesetzlichen Unterschied entstehen zu lassen. Da-
mals hat neben der Unterstützung angeblicher Arbeitslosigkeit ein
Mangel an Arbeitern bestanden, vor allem auf dem Lande, und nie-
mand wollte das ernstlich verhindern. Die Krankenkassen wurden
von Tausenden mißbraucht, um der Arbeit aus dem Wege zu gehen.
Die Arbeitslosigkeit ist in ihren Anfängen vom Marxismus geradezu
gezüchtet worden. Der Begriff des Proletariers schließt die Freude
an der Arbeit aus. Ein Arbeiter, der etwas kann und stolz auf seine
revolutionäre Bewegung. Er muß proletarisiert, demoralisiert wer-
den, um für sie brauchbar iu sein. Das ist der eigentliche Bolschewis-
mus, in dem diese Revolution ihren Höhepunkt, abe
nicht ihren Abschluß findet.
Es kennzeichnet die Oberflächlichkeit des Denkens der
betrachtet wird, die Westeuropa zu erobern drohe. In Wirklichkeit ist
er in Westeuropa entstanden, und zwar mit folgerichtiger Notwendig-
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
keit als letzte Phase der liberalen Demokratie von 1770 und als letzter
Triumph des politischen Rationalismus, das heißt der Anmaßung,
die lebendige Geschichte durch papierne Systeme und Ideale meistern
zu wollen. Sein erster Ausbruch großen Stils war nach den Juni-
schlachten von 1848 die Pariser Kommune von 1871, die nahe
daran war, ganz Frankreich zu erobern. 1 Nur die Armee
verhindert 2 — und die deutsche Politik, die diese Armee mors
stützte. Damals, nicht 191 7 in Rußland, sind aus den
einer belagerten Hauptstadt heraus die Arbeiter- und Soldatenräte
entstanden, die Marx, ein Tropf in praktischen Fragen, als mögliche
Form einer kommunistischen Regierung seitdem empfohlen hat.
Damals sind zuerst die massenhaften Abschlachtungen der Gegner
durchgeführt worden, die Frankreich mehr Tote gekostet haben als
der ganze Krieg gegen Deutschland. Damals herrschte in Wirklich-
keit nicht die Arbeiterschaft, sondern das arbeitsscheue Gesindel,
Deserteure, Verbrecher und Zuhälter, Literaten und Journalisten,
darunter wie immer viele Ausländer, Polen, Juden, Italiener, selbst
Deutsche. Aber es war eine spezifisch französische Form der Revo-
lution. Von Marx war keine Rede, um so mehr von Proudhon, Fou-
rier, den Jakobinern von 1792. Ein loser Bund der großen Städte,
das heißt ihrer untersten Schichten, sollte das flache Land und die
Kleinstädte unterwerfen und beherrschen — ein typischer Gedanke
des romanischen Anarchismus. Etwas Ähnliches hatte schon i4.ii
der Fleischer Caboche mit dem militärisch organisierten Pöbel von
Paris versucht. Das ist 19 17 in Petersburg nur kopiert worden, mit
einem gleichartigen „westlichen" Pöbel und mit den gleichen Schlag-
worten. Die „asiatische" Seite dieser russischen Revolution aber,
nicht gelungen ist, die westlich-kommunistischen Formen der Sowjet-
herrschaft zu überwinden, hat ihren frühesten Ausdruck im Auf-
gebiet ergriff und zeitweise Moskau und damit den Zarismus be-
drohte. Das religiös begeisterte 5 Bauerntum, darunter ganze Kosa-
1 Der Aufstand kam auch in Lyon, Marseille, Toulouse, Creusot, Narbonne zum Aus-
kenstämme, tötete alles, was ihm von Vertretern des peir mischen,
„europäisch" geformten Rußland in die Hände fiel, Offiziere, Be-
im! den Vertretern der Sowjetbürokratie gemacht, und ihre Nach-
das Moskau dieser Tage immer we~
aus ihrem Denken heraus
tz zut
int
„weißen" Völker brütet und dem diese Demokratie und dieser Sozia-
lismus selbst angehören, und dem Haß, der sich in allen farbigen
Bevölkerungen der Welt gegen die weiße Zivilisation als Gesamtheit,
einschließlich ihrer revolutionären Strömungen, ansammelt.
Wie aber stellt sich die Gesellschaft" der westeuropäischen Zivili-
sation, die sich im heutigen England gern als Mittelklasse, auf dem
denn sie hat den Bauern eben-
— , seit 1770 und vor allem seit i848 zur Tat-
Stenden Revolution von unten,
von
ieiten, die der Presse, Vereine.
unterstützt.
tuelle Selbstmord war die große Mode des vorigen Jahrhunderte.
Es muß immer wieder festgestellt werden: diese Gesellschaft,
in der sich eben jetzt der Übergang von der Kultur zur Zivili-
sation vollzieht, ist krank, krank in ihren Instinkten und deshalb
auch in ihrem Geist. Sie wehrt sich nicht. Sie findet Geschmack an
ihrer Verhöhnung und Zersetzung. Sie zerfällt seit der Mitte des
1 Dasselbe drückt in Frankreich seit 1789 citoyen und bourgeois tatsächlich aus, den
Willen der Stadt gegen das Land.
DIE WEISSE WELTREVOLU T 10 N
18. Jahrhunderts immer mehr in liberale und erst im Wider-
spruch, in der verzweifelten Abwehr dagegen konservative Kreise.
Auf der einen Seite gibt es eine kleine Zahl von Menschen, die aus
sicherem Instinkt für die politische Wirklichkeit sehen, was vor sich
geht und wohin es geht, die zu verhindern, zu mäßigen, abzuleiten
versuchen, Persönlichkeiten nach Art des Scipionenkreises in Rom,
aus dessen Anschauungen heraus Polybius sein Geschichtswerk ge-
schrieben hat: Burke, Pitt, Wellington, Disraeli in England, Metternich
und Hegel, später Bismarck in Deutschland, Tocqueville in Frankreich.
Sie haben die erhaltenden Mächte der alten Kultur, den Staat, die Mon-
archie, das Heer, das Standesbewußtsein, den Besitz, das Bauerntum
zu verteidigen versucht, selbst wo sie Einwände hatten, und werden
ralen erfunden worden ist und heute von ihren marxistischen Zög-
lingen auf sie selbst angewendet wird, seit sie die letzten Folgen
schritt. Auf der andern Seite befindet sich nahezu alles, was städti-
sche Intelligenz besitzt oder sie zum mindesten als Zeichen zeit-
gemäßer Überlegenheit und als Macht der Zukunft bewundert —
einer Zukunft, die heute schon Vergangenheit ist.
Hier wird der Journalismus zum herrschenden Ausdruck der Zeit
ä ist der kritische esprit des 18. Jahrhunderts, zum Ge-
geistig Mittelmäßige verdünnt und verflacht, und man
vergesse nicht, daß das griechische krinein scheiden, zerlegen, zer-
setzen bedeutet. Drama, Lyrik, Philosophie, sogar Naturwissenschaft
und Geschichtsschreibung 1 werden Leitartikel und Feuilleton, mit
einer maßlosen Tendenz gegen alles, was konservativ ist und einmal
Ehrfurcht eingeflößt hat. Die Partei wird zum liberalen Ersatz für
Stand und Staat, die Revolution in der Form periodischer Massen-
wahlkämpfe mit allen Mitteln des Geldes, des „Geistes" und selbst
nach gracchischer Methode der körperlichen Gewalt zu einem ver-
gäbe staatlichen Daseins entweder bekämpft und verhöhnt oder zu
1 Man denke an Haeckel. Mommsens Römische Geschichte ist das Pamphlet eines
Achtundvierzigers gegen „Junker und Pfaffen", mit einer vollkommen irreführenden
Darstellung der inneren Entwicklung Roms. Erst Eduard Meyer, „Untersuchungen zur
Geschichte der Gracchen" und „Caesars Monarchie und das
hat eine unparteiische Geschichte dieser Vorgänge geschrieben.
einem Parteigeschäft herabgewürdigt. Aber die Blindheit und Feig-
heit des Liberalismus geht weiter. Toleranz wird den zerstören-
den Mächten der großstadtischen Hefe gewährt, nich
rus
von einem
anderen weitergegeben. In Parts und London, vor
Schweiz wird nicht nur ihr Dasein, sondern auch ihre untergrabende
Tätigkeit sorgfältig geschätzt. Die liberale Presse hallt wider von
Verwünschungen der Gefängnisse, in denen die Märtyrer der Frei-
heit schmachten, und kein Wort fällt zugunsten der zahllosen Ver-
teidiger der staatlichen Ordnung bis zum einfachen Soldaten und
sprengt, zu Krüppeln geschossen, abgeschlachtet worden sind. 1
Der Begriff des Proletariats, von sozialistischen Theoretikern mit
tiert. Er hat mit den tausend Arten strenger und sachkundiger Ar-
beit — vom Fischfang bis zum Buchdruck, vom Baumfällen bis
zum Führen einer Lokomotive — in Wirklichkeit gar nichts zu tun,
wird von fleißigen und gelernten Arbeitern verachtet und als Schimpf
empfunden und sollte lediglich dazu dienen, diese dem großstädti-
schen Pöbel zum Zwc
nung einzugliedern. Erst der Liberalismus, indem er ihn
verwe
entstand eine armselige Literatur
zum
icu zur
1 Alt Schopenha uer in seinem Testament eine Summe für die
{bestimmt hatte, die i$£8 iß Berlin gefallen waren — niemand
et der Revolution gedacht — , erhob sich unter Führung von
über diese Schmach. Aus demselben Geist stammt das
bolschewistischen Massenmörder Trotzkt, als ihm die „bürgerlichen"
•as den staatlichen Schutz für den Besuch eines Kurortes verweigerten
der
hatte an
ein
mit
scheue, der Hetzer, der Verbrecher. Es gilt von nun an als modern
und überlegen, die Welt von unten zu sehen, aus der Perspektive von
Winkelkneipen und verrufenen Gassen. Damals, in liberalen Kreisen
Westeuropas und nicht 1918 in Rußland, ist der „Proletkult" ent-
standen. Eine folgenschwere Einbildung, halb Lüge, halb Dumm-
heit, beginnt sich der Köpfe von Gebildeten und Halbgebildeten zu
bemächtigen: „Der Arbeiter" wird der eigentliche Mensch, das
eigentliche Volk, der Sinn und das Ziel der Geschichte, der Politik,
der öffentlichen Sorge. Daß alle Menschen arbeiten, daß vor allem
andere mehr und wichtigere Arbeit leisten, der Erfinder, der Ingenieur,
der Organisator, ist vergessen. Niemand wagt es mehr, den Rang, die
Qualität einer Leistung als Maßstab ihres Wertes zu betonen. Nur
die nach Stunden gemessene Arbeit gilt noch als Arbeit. Und „der
Arbeiter" ist zugleich der Arme und Unglückliche, der Enterbte,
Hungernde, Ausgebeutete. Auf ihn allein werden die Worte Sorge
fruchtbarer Landstriche, seine Mißernten, die Gefahren von Hagel
und Frost, die Sorge um den Verkauf seiner Erzeugnisse, an das
elende Leben armer Handwerker in Gebieten mit starker Industrie,
an die Tragödien kleiner Kaufleute, Hochseefischer, Erfinder, Ärzte,
die in Angst und Gefahr um jeden Bissen täglichen Brotes ringen
zu Tausenden unbeachtet zugrunde gehen. „Der
findet Mitleid. Er allein wird unterstützt, versorgt,
[ehr noch, er wird zum Heiligen, zum Götzen der
'eit erhoben. Die Welt dreht sich um ihn. Er ist der Mittelpunkt
Wirtschaft und das Schoßkind der Politik. Das Dasein aller
ist um seinetwillen da; die Mehrheit der Nation hat ihm zu dienen.
Man darf sich über den dummen und dicken Bauern, den trägen
Beamten, den betrügerischen Krämer lustig machen, um vom Rich-
ter, Offizier und Unternehmer, den bevorzugten Objekten gehässiger
Witze, ganz zu schweigen, aber niemand würde es wagen über „den
Arbeiter" den gleichen Hohn auszugießen. Alle anderen sind
Müßiggänger, nur er nicht. Alle sind Egoisten, nur er nicht.
Das gesamte Bürgertum schwingt die Weihrauchfässer vor diesem
Phantom; wer auch noch soviel in seinem eigenen Leben leistet,
muß vor ihm auf den Knien liegen. Sein Dasein ist über jede
Kritik erhaben. Erst das Bürgertum hat diese Art die Dinge
88 DIE WEISSE WELTREVOLUTION
zu sehen völlig durchgesetzt, und die geschäftstüchtigen „Volks-
vertreter" schmarotzen von dieser Legende. Sie haben sie den Lohn-
arbeitern so lange erzählt, bis sie daran glaubten, bis sie sich wirklich
mißhandelt und elend fühlten, bis sie jeden Maßstab für ihre Lei-
stung und ihre Wichtigkeit verloren. Der Liberalismus gegenüber
den Tendenzen der Demagogie ist die Form, in welcher die kranke
Gesellschaft Selbstmord begeht. Mit dieser Perspektive gibt sie sich
selbst auf. Der Klassenkampf, der gegen sie geführt wird, erbittert
und erbarmungslos, findet sie zur politischen Kapitulation bereit,
nachdem sie geistig die Waffen des Gegners schmieden half. Nur
das konservative Element, so schwach es im 19. Jahrhundert war,
kann und wird das Ende in Zukunft verhindern.
es denn, der diese Masse der Lohnarbeiter in den großen
Städten und Industriegebieten aufgewiegelt, organisiert, mit Schlag-
worten versehen, durch eine zynische Propaganda in den Klassenhaß
gegen die Mehrheit der Nation hineingetrieben hat? Es ist nicht der
fleißige und gelernte Arbeiter, der „ Straubinger" (Vagabund), wie
er im Briefwechsel zwischen Marx und Engels voller Verachtung
genannt wird. Engels spricht im Brief an Marx vom 9. Mai i85i
von dem demokratischen roten und kommunistischen Mob und
schreibt am 1 1 . Dezember 1 85 1 an Marx : „Was ist denn noch an
dem Gesindel, wenn es verlernt sich zu schlagen?" Der Hand-
arbeiter ist nur Mittel für die privaten Ziele der Berufsrevolutio-
näre. Er soll sich schlagen, um ihren Haß gegen die konservativen
Machte und ihren Hunger nach Macht zu befriedigen. 1 Wollte man
nur Arbeiter als Vertreter von Arbeitern anerkennen, so würden die
Bänke auf der linken Seite aller Parlamente sehr leer werden. Unter
1 Friedrich Lenz „Staat und Marxismus" (1921, 1
Staaten der heiligen Allianz, vor a
Kußland, kämpfte, bevor er um i843 Sozialist wurde, und daß er viel
war, seine eigene kommunistische Theorie vom industriellen Proletariat
und durch eine ganz andre von der
Störung des Zarismus sicherer zu erreichen.
Marx nur
ißen und
>ch bereit
zu lassen
I
DIE WEISSE WELTREVOLU TION 89
Fabrik gearbeitet hätte. 1 Die politische Boheme Westeuropas, in
welcher der Bolschewismus sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts
entwickelt, setzt sich aus denselben Elementen zusammen wie die,
welche den revolutionären Liberalismus seit 1770 ausgebildet hat.
Ob i848 in Paris die Februarrevolution für den „Kapitalismus*'
oder die Junischlachten gegen ihn erfolgten, ob Freiheit und Gleich-
heit" 1789 die des Mittelstandes, 1793 und 19 18 die der untersten
Schichten bedeuten sollten, in Wirklichkeit waren die Ziele der An-
stifter dieser Bewegungen und ihre letzten Motive genau die glei-
chen, und nicht anders steht es heute in Spanien und morgen viel-
leicht in den Vereinigten Staaten. Es ist der geistige Mob, an der Spitze
die Gescheiterten aller akademischen Beruf e. die geistigUnf ähigenund
seelisch irgendwie Gehemmten, woraus die Gangsters der liberalen und
bolschewistischen Auf stände hervorgehen. Die „Diktatur des Prole-
tariats", das heißt ihre eigene Diktatur mit Hilfe des Proletariats,
soll ihre Rache an den Glücklichen und Wohlgeratenen sein, das letzte
Mittel, die kranke Eitelkeit und die gemeine Gier nach Macht zu
stillen, die beide aus der Unsicherheit des Selbstgef ühls hervorwachsen,
der letzte Ausdruck verdorbener und fehlgeleiteter Instinkte.
Unter all diesen Juristen, Journalisten, Schulmeistern, Künstlern,
Technikern pflegt man einen Typus zu übersehen, den verhängnis-
vollsten von allen : den gesunkenen Priester. Man vergißt den tiefen
Unterschied zwischen Religion und Kirche. Religion ist das persön-
liche Verhältnis zu den Mächten der Umwelt, wie es sich in Welt-
anschauung, frommem Brauch und entsagendem Sichverhalten aus-
drückt. Eine Kirche ist die Organisation einer Priesterschaft, die um
ihre weltliche Macht kämpft. Sie bringt die Formen des religiösen
Lebens und damit die Menschen, die an ihnen hängen, in ihre Gewalt.
Sic ist deshalb die geborene Feindin aller anderen Machtgebilde, des
Staates, des Standes, der Nation. Während der Perserkriege agi-
tierte die Priesterschaft von Delphi für Xerxes und gegen die na-
tionale Verteidigung. Cyrus konnte Babylon erobern und den letzten
Chaldäerköriig Naboned stürzen, weil die Priesterschaft des Marduk
1 Um so mehr Arbeiter, die sich durch Fleiß und Begabung „hinaufgearbeitet" haben,
finden sich im Unternehmertum. Bebel hat das mit wütendem Haß als Verrat an der
Arbeiterklasse gebrandmarkt. Nach seiner Meinung führt der „zielbewußte" Weg des Ar-
beiters nur über den Parteisekretär zum Massenführer.
mit ihm
war. Dm
sind voll von Beispielen dieser Art, und im
und Priestertum nur dann — zuweilen — ein Waffenstillstand,
wenn man sich von einem Bündnis gegen dritte den größeren Vorteil
versprach- „Mein Reich ist nicht von dieser Welt" ist der tiefe Aus-
spruch, der von jeder Religion gilt und den jede Kirche verrät.
Aber jede Kirche verfällt mit der Tatsache ihres Daseins den Be-
dingungen geschichtlichen Lebens: sie denkt machtpolitisch und
materiell-wirtschaftlich ; sie fuhrt Krieg auf diplomatische und mili-
tärische Art und teilt mit anderen Machtgebilden die
Jugend und Alter, Aufstieg und Verfall. Und vor allem ist
Hinblick auf konservative Politik und Tradition in Staat und Gesell-
schaft nicht ehrlich und kann es als Kirche gar nicht sein. Alle
jungen Se
gegen Stand und Rang und für allgemeine Gleichheit eingenom-
men. 1 Und die Politik altgewordener Kirchen, so konservativ sie in
bezug auf sich selbst sind, ist immer in Versuchung in bezug auf den
Staat und die Gesellschaft liberal, demokratisch, sozialistisch, also
einebnend und zerstörend zu werden, sobald der Kampf zwischen
Tradition und Mob beginnt.
Alle Priester sind Menschen und damit wird das Schicksal der Kir-
che von dem menschlichen Material abhangig, aus dem sie sich
in schneller Folge zusammensetzt. Selbst die strengste Auswahl —
und sie ist in der Regel meisterhaft — kann nicht verhindern, daß
in Zeiten des gesellschaftlichen Verfalls und revolutionären Ab-
baus aller alten Formen die gemeinen Instinkte und das gemeine
Denken häufig und selbst herrschend werden. Es gibt in allen der-
artigen Zeiten einen Priester pöbei, der die Würde und den Glauben
der Kirche durch den Schmutz parteipolitischer Interessen schleift,
sich mit den Mächten des Umsturzes verbündet und mit den senti-
mentalen Phrasen von Nächstenliebe und Schutz der Armen die
Unterwelt zur Zerstörung der gesellschaftlichen Ordnung entfesseln
DIE WEISSE WELTREVOLUTION 91
und schicksalhaft verbunden ist. Eine Religion ist das, was die Seele
der Gläubigen ist. Eine Kirche ist so viel wert, als das Priester-
material wert ist, aus dem sie sich zusammensetzt.
Am Anfang der französischen Revolution stehen neben dem Schwärm
verkommener Abbes, die seit Jahren gegen Monarchie, Autorität
und Stand spöttisch schrieben und redeten, der entlaufene Mönch
Fouche und der abtrünnige Bischof Talleyrand. beide Königsmörder
und Millionendiebe, napoleonische Herzöge und Landesverräter. Seit
i8i5 wird der christliche Priester immer häufiger Demokrat, So-
zialist und Parteipolitiker. Das Luthertum, das kaum, und der Puri-
tanismus, der gar keine Kirche ist, haben als solche keine destruk-
tive Politik getrieben. Der einzelne Priester ging für sich „ins
Volk" und zur Arbeiterpartei, redete in Wahlversammlungen und
Parlamenten, schrieb über „soziale" Fragen und endete als Dema-
goge und Marxist. Der katholische Priester aber, stärker gebunden, zog
die Kirche auf diesem Wege hinter sich her. Sie wurde in die Agitation
der Parteien verflochten, zuerst als wirksames Mittel und zuletzt als
Opfer dieser Politik. Eine katholische Gewerkschaftsbewegung mit
sozialistisch-syndikalistischen Tendenzen gab es in Frankreich schon
unter Napoleon III. In Deutschland entstand sie seit 1870 aus der
Furcht, daß die roten Gewerkschaften die Macht über die Massen
der Industriegebiete allein eroberten. Und alsbald verständigte sie sich
mit diesen. Alle Arbeiterparteien sind sich ihrer Gemeinsamkeit
dunkel bewußt, so sehr die Führergruppen einander hassen.
Es ist lange her, seit der weltpolitische Blick Leos XIII. Schule
machte und in Deutschland ein echter Kirchenfürst wie Kardinal
Kopp den Klerus regierte. Damals war die Kirche sich bewußt,
eine konservative Macht zu sein, und wußte sehr genau, daß ihr
Schicksal mit dem der übrigen konservativen Mächte, der staatlichen
Autorität, der Monarchie, der gesellschaftlichen Ordnung und des
Eigentums verbunden war, daß sie im Klassenkampf unbedingt
gegendie liberalen und sozialistischen Mächte auf der „rechlen" Seite
stand und daß davon die Aussicht abhing, das revolutionäre Zeitalter
als Macht zu überdauern. Das hat sich schnell geändert. Die seelische
Disziplin ist erschüttert. Die pöbelhaften Elemente im Priestertum
tyrannisieren durch ihre Tätigkeit die Kirche bis in die höchsten
Stellen hinauf, und diese müssen schweigen, um ihre Ohnmacht
nicht vor der Welt zu enthüllen. Die Diplomatie der Kirche, einst
vornehm von oben her und über Jahrzehnte hin die Dinge taktisch
beurteilend, hat in weiten Gebieten den gemeinen Metboden der
Tagespolitik Platz gemacht» der parteimäßig- demokratischen Agi-
tation von unten mit ihren nichtswürdigen Kniffen und verlogenen
Unterwelt. Man hat das überlieferte Streben nach welt*-
Macht auf den kleinen Ehrgeiz von Wahlerfolgen und Bünd-
nissen mit anderen Pöbel parteien zum Zweck materieller
reduziert. Der Mob in der Priesterschaft, einst streng gezüge'
heute mit seinem proletarischen Denken die Herrschaft über den
wertvollen Teil des Klerus, welcher die Seele des Menschen für
wichtiger hält als seine Wahlstimme und metaphysische Fragen ern-
ster nimmt als demagogische Eingriffe in das Wirtschaftsleben.
Taktische Fehler wie in Spanien, wo man sich einbildete, das Schick-
sal von Thron und Altar trennen zu können, wären vor einigen Jahr-
zehnten nicht gemacht worden. Aber seit dem Ende des Weltkrieges
sank vor allem in Deutschland die Kirche, die eine alte Macht mit
alten und starren Traditionen ist und als solche das Niedersteigen
zur Gasse mit dem Ansehen unter den eignen Gläubigen teuer be-
zahlen muß, durch die Agitation minderwertiger Anhänger zum
in Deutschland einen katholischen Bolschewismus,
ier ist
Lutherschüler Karlstadt und
as Münzer und der Staatssozia-
imon,
lt sehr wider Wissen und
rüstung und auf scholastische
en
in
Schaftsfragen in aller Heimlichkeit ihr Wesen trieben.
des Thomas von Aquino steckt
tem
auf priesterlich-moralische Ent-
e zurück, die im nationaldko-
vom
noch in
DIE WEISSE WELTREVOLÜT10N 93
munistischen Manifest! Die christliche Theologie ist die Großmutter
des Bolschewismus. Alles abstrakte Grübeln über Wirtschaftsbegriffe
fern von aller wirtschaftlichen Erfahrung führt, wenn es mutig und
ehrlich zu Ende geführt wird, irgendwie zu Vernunftschlüssen gegen
Staat und Eigentum, und nur der Mangel an Blick erspart es diesen
materialistischen Scholastikern zu sehen, daß am Ende ihrer Ge-
dankenkette wieder der Anfang steht: Der verwirklichte Kommunis-
mus ist autoritäre Bürokratie. Um das Ideal durchzusetzen,
braucht man die Diktatur, die Schreckensherrschaft, die bewaff-
nete Macht, die Ungleichheit von Herren und Sklaven, Befehlenden
und Gehorchenden, kurz das System von Moskau. Aber es gibt
zweierlei Kommunismus : Den einen, gläubigen, aus doktrinärer Be-
sessenheit oder weibischer Sentimentalität, der weltfremd und welt-
feindlich den Reichtum der lasterhaft Glücklichen und zuweilen
auch die Armut der braven Unglücklichen verwirft. Er endet ent-
weder in nebelhaften Utopien oder mit dem Rückzug auf Askese,
Kloster, Boheme und Landstreichertum, wo man die Belanglosig-
keit all es Wirtschaftsstrebens predigt. Der andere, „weltliche", real-
politische aber will durch seine Anhänger entweder aus Neid und
Rache die Gesellschaft zertrümmern, weil sie ihnen auf Grund ihrer
Persönlichkeit und ihrer Talente einen niedrigen Platz anweist,
oder durch irgendein Programm die Massen hinter sich bringen,
um seinen Willen zur Macht zu befriedigen. Aber auch das verbirgt
sich gern hinter dem Mantel einer Religion.
Auch der Marxismus ist eine Religion, nicht in der Absicht seines
Urhebers, aber in dem, was das revolutionäre Gefolge daraus ge-
macht hat. Er hat seine Heiligen, Apostel, Märtyrer, Kirchenväter,
seine Bibel und seine Mission ; er hat Dogmen, Ketzergerichte, eine
Orthodoxie und Scholastik und vor allem eine volkstümliche Moral
oder vielmehr zwei — gegenüber Gläubigen und Ungläubigen —
wie nur irgendeine Kirche. Und daß seine Lehre durch und durch
materialistisch ist — macht das einen Unterschied? Sind alle die
Priester, die sich agitatorisch in Wirtschaftsfragen mischen, es we-
niger? Was sind denn christliche Gewerkschaften? Christlicher Bol-
schewismus, nichts anderes. Seit dem Beginn des rationalistischen
Zeitalters, seit 1700 also, gibt es Materialismus mit und ohne christ-
liche Terminologie. Sobald man die Begriffe Armut, Hunger, Elend,
94 DIE WEISSE W EL T REVO LV T 10 N
Arbeit und
in den
mit dem moralischen II:
und unrecht — und
ierungen also eintritt, ist man Materialist,
mit innerer Notwendigkeit an Stelle des Hochaltars das Partei-
sekretariat, an Stelle des Opferstockes die Wahlkasse, und der Ge~
srer i
iaterialismus der späten großen Städte ist eine Form
des praktischen Urteilens und Handelns, mag daneben der „Glaube**
sein wie er will. Es ist die Art, die Geschichte, das öffentliche und
zu sehen und unter Wirtschaft
zu verstehen, sondern die
Methode, mit wenig Anstrengung soviel Geld und Genuß als mög-
lich zu erbeuten: panem et circenses. Den meisten kommt es heute
gar nicht zum Bewußtsein, wie materialistisch sie denken und sind.
Man kann eifrig beten und beichten und beständig das Wort „Gott"
im Munde führen, 1 man kann sogar Priester von Beruf und Über-
zeugung und trotzdem Materialist sein. Die christliche Moral ist
wie jede Moral Entsagung und nichts anderes. 2 Wer das nicht emp-
findet, ist Materialist. „Im Schweiße deines Angesichts sollst du
dein Brot essen" — das heißt, diesen harten Sinn des Lebens nicht
als Elend empfinden und nicht durch Parteipolitik zu umgehen
suchen. Aber für proletarische Wahlpropaganda ist der Satz aller-
dings nicht brauchbar. Der Materialist will lieber das Brot essen,
das andere im Schweiße ihres Angesichts erarbeitet haben, der
Bauer, der Handwerker, der Erfinder, der Wirtschaftsführer. In-
1 Gerade diese Mode unter heutigen Rednern und Schreibern beweist, <Jaß es steh um
ein Schlagwort, eine» leeren Begriff und um nichts weniger als den Ausdruck religiöser
Erneuerung und innerlichen Erlebens handelt. Es gibt tiefe Religionen und religiöse
Überzeugungen großer Menschen, die atheistisch, panuSeisttseh oder polytheistisch sind,
in China, Indien, der Antike und heute im Abendland. Das aligerma rasche Wert god
war ein Neutrum pluraiis und ist erst von der christlichen Propaganda in ein Maskuli-
num singularis verwandelt worden. Wie man das undurchdringliche Geheimnis der Um-
welt tu deuten versucht und ob man es versucht, hat mit dem Rang des religiösen
Schauens und Verhaltens gar nichts zu tun. Aber hier verwechselt man religiös mit kon-
fessionell« der Anerkennung bestimmter Lehren und Vorschriften, und mit klerikal, der
Anerkennung der Ansprüche einer Priestetschaft. In Wirklichkeit hängt die Hefe einer
Religion von der Persönlichkeit dessen ab, in dem sie lebt. Ohne Laienfrdmmigkeit ist
seihat eine ausgesprochene Priesterreligion nicht lebensfähig.
• ünt. d. Abendl. II, S. 330 ff.
DIE WEISSE WELTREVOLÜTION
95
dessen das berühmte Nadelöhr, durch das manches Kamel hindurch-
geht, ist nicht nur für den „Reichen" zu eng, sondern auch für
den, der durch Streik, Sabotage und Wahlen Lohnsteigerungen und
Arbeitszeitverkürzungen erpreßt, und auch für den, der diese Tätig-
keit um seiner Macht willen leitet. Es ist die Nützlichkeitsmoral von
Sklavenseelen : Sklaven nicht nur durch die Lebenslage — das sind
Zeit und an einen Ort — sondern durch die gemeine Art, die Welt
von unten zu sehen. Ob man das Reichsein beneidet oder
Materialismus, dem Entsagen unverständlich und lächerlich bleibt,
ist nichts als Egoismus, von einzelnen oder Klassen, der parasitische
Egoismus der Minderwertigen, die das Wirtschaftsleben der an-
deren und der Gesamtheit als Objekt betrachten, aus dem man mit
möglichst geringer Anstrengung möglichst viel Lebensgenuß — pa-
nem et circenses — saugt. Hier wird die persönliche Überlegenheit,
der Fleiß, der Erfolg, die Freude an der Leistung als böse, als Sünde
und Verrat betrachtet. Es ist die Moral des Klassenkampf es, die das
alles unter der Bezeichnung Kapitaiismus, die von Anfang an
moralisch gemeint war, 1 zusammenfaßt und dem Haß des Prole-
tariers als Ziel bezeichnet, wie sie auf der anderen Seite versucht,
die Lohnempfänger mit der Unterwelt der großen Städte zu einer
politischen Front zu verschmelzen.
Nur „der Arbeiter" darf und soll Egoist sein, nicht etwa der
Bauer oder Handwerker. Er allein hat Rechte statt Pflichten. Die
anderen haben nur Pflichten und kein Recht. Er ist der privilegierte
Stand, dem die anderen mit ihrer Arbeit zu dienen haben. Das Wirt-
schaftsleben der Nationen ist um seinetwillen da und muß allein
mit Rücksicht auf sein Behagen organisiert werden, ob es dabei zu-
grunde geht oder nicht. Das ist die Weltanschauung, welche die
Klasse der Volksvertreter aus der akademischen Hefe, vom Li-
teraten und Professor bis zun
die sie die unteren Schichten der Gesellschaft
1 Polit. Schriften („Preußentum und Soiialismus") S. 77 f.
sie für ihren Haß und ihren Hunger nach Macht mobil zu machen.
Deshalb sind Marx gegenüber vornehm und konservativ denkende
Sozialisten wie Lassalle, der Anhänger der Monarchie, und Georges
Sorel, der die Verteidigung von Vaterland, Familie und Eigentum
als vornehmste Aufgabe des Proletariats betrachtete und von dem
Mussolini gesagt hat, daß er ihm mehr verdanke als Nietzsche, un-
bequem und werden nie mit ihrer wahren Meinung zitiert.
Unter den vielen Arien des theoretischen Sozialismus oder Kom-
t naturgemäß die gemeinste und in ihren letzten Ab-
unehrlichste gesiegt, die, welche am rücksichtslosesten dar-
entworfen war, den Berufsrevolutionären die Macht über
zu verschaffen. Ob wir sie Marxismus nennen oder
nicht, ist gleichgültig. Welche Theorie die revolutionären Schlag-
worte für die Propaganda liefert, oder hinter welchen nichtrevo-
lutionären Weltanschauungen sie sich verbirgt, ist ebenso gleich-
gültig. Es kommt nur auf das praktische Denken und Wollen an.
Wer gemein ist, gemein denkt, gemein fühlt und handelt, wird
nicht anders dadurch, daß er sich ein Prieslergewand auf den Leib
zieht oder nationale Fahnen schwenkt. Wer irgendwo in der Welt
heute Gewerkschaften oder Arbeiterparteien gründet oder führt, 1
unterliegt beinahe mit Notwendigkeit sehr bald der marxistischen
tische und wirtschaftliche Führung, die Gesellschaftsordnung, die
Autorität und das Eigentum verleumdet und verfolgt. Er findet als-
bald in seiner Gefolgschaft die schon zur Tradition gewordene Auf-
fassung des Wirtschaftslebens als Klassenkampf und wird dadurch
von ihr abhängig, wenn er Führer bleiben will. Der proletarische
Egoismus ist nun einmal in seinen Zielen und Mitteln die Form,
in welcher die „weiße" Weltrevolution sich seit fast einem Jahr-
hundert vollzieht, und es macht wenig aus, ob sie sich eine soziale
Bewegung
i 2 sein wollen oder nicht.
1 Den linken Flügel der englischen sehr nationalen Arbeiterpartei und des deutschen
Nationalsozialismus ebenso wie spanische Anarchistenklubs und amerikanische und
japanische Gewerkschaften, so wenig von Marx sie gelegentlich hören wollen.
2 Der Führer des katholischen Bergarbeitervereins sagte am 18. Januar 1925 in
Essen: „Die sozialen Gedanken setzen sich durch, entweder auf dem Wege der Reform
oder auf dem Wege der Gewalt. Das soll keine Drohung sein, sondern die Fest-
DIE WEISSE WELTREVOLUTION 97
Die Blütezeit der weltverbessernden Theorien füllt das erste, auf-
steigende Jahrhundert des Rationalismus aus, vom Contrat social
(1762) bis zum kommunistischen Manifest (1848). 1 Damals glaubte
man wie Sokrates und die Sophisten an die Allmacht des mensch-
lichen Verstandes und seine Fähigkeit, über Schicksal und Instinkte
Gewalt zu haben und das geschichtliche Leben ordnen und leiten zu
können. Sogar in das Linnesche System zog der Mensch damals
als homo sapiens ein. Man vergaß die Bestie im Menschen, die ihr
Dasein 1792 wieder nachdrücklich in Erinnerung brachte. Man war
nie weiter entfernt von der Skepsis des echten Kenners der Geschichte
und der wirklichen Weisen aller Zeiten, die wußten, daß ,,der Mensch
böse ist von Jugend auf". Man hoffte die Völker zum Zweck ihrer
endgültigen Seligkeit nach doktrinären Programmen organisieren
zu können. Die Leser wenigstens haben daran geglaubt, inwieweit die
Schreiber solcher materialistischen Utopien, ist eine andere Frage.
Aber seit i848 ist das zu Ende. Das System von Marx ist auch dar-
um das wirksamste geworden, weil es das letzte war. Wer heute
politische oder wirtschaftliche Programme zur Rettung der „Mensch-
heit" entwirft, ist altmodisch und langweilig. Er beginnt lächerlich zu
werden. Aber die agitatorische Wirkung solcher Theorien auf Dumm-
köpfe — die Lenin auf 960/0 aller Menschen schätzte — ist noch
immer stark (sie nimmt in England und Amerika sogar zu), mit
Ausnahme von Moskau, wo man nur zu politischen Zwecken daran
zu glauben vorgibt.
Die klassische Nationalökonomie von 1770 und die ebenso alte
materialistische, das heißt „wirtschaftliche" Geschichtsauffassung,
Stellung einer Tatsache, und wenn noch einmal eine Revolution kommt, so glaube ich
nicht, daß dann die Kopfe der führenden deutschen Unternehmer gerettet
würden." Die katholischen Gewerkschaf len haben unter dem Beifall der „atheistischen"
immer wieder die Enteignung des Bergwerkbesitzes und der Großindustrie zum heuligen
Erlragswert, das heißt ohne Entschädigung verlangt: Das ist die Expropriation der Expro-
priateure des kommunistischen Manifest». (Vgl. die Broschüre : „Christentum oder Klassen-
kampf ?" von F. lioltermann, Berlin.) Die wachsende Mißstimmung im wertvollen Teil
des Klerus gegen die priesterlichen Elemente, welche den katholischen Bolschewismus
entwickeln halfen und zum Bündnis mit der Sozialdemokratie getrieben haben, ist so
groß und hat darüber hinaus so weite Schichten des Bauerntums und Mittelstandes er-
griffen, daß die Entstehung einer deutschen Nationalkirche, wie sie schon der berühmte
Generalvikar des Bistums Konstanz, v. Wessenberg, zur Zeit des Wiener Kongresses an-
strebte, nicht außerhalb aller Möglichkeiten liegt,
i Unt. d. Abendl. II, S. 563 ff.
Spengler, Jahre I 7
98 DIE WEISSE WELTREVOLUTION
die beide das Schicksal von Jahrtausenden auf die Begri
Preis und Ware zurückführen, gehören im tiefsten Grunde dazu.
Sie sind innerlich verwandt und vielfach identisch und führen mit
Notwendigkeit zu Träumen von einem Dritten Reich, das der Fort-
schrittsglaube des 19. Jahrhunderts irgendwie als Ende der Ge-
schichte angestrebt hat. Es war die materialistische Travestie des
Gedankens großer gotischer Christen wie des Joachim von Floris
vom Dritten Reich. 1 Es sollte nun die endgültige Seligkeit auf Erden
begründen, das Schlaraffenland aller Armen und Elenden, die man
mit steigendem Nachdruck mit „dem Arbeiter" identifizierte. Es
sollte das Ende aller Sorge, das süße Nichtstun, den ewigen Frieden
bringen, und der Klassenkampf mit der Abschaffung des Eigentums,
der „Brechung der Zinsknechtschaft", dem Staatssozialismus und
der Vernichtung aller Herren und Reichen sollte dazu den Weg
bahnen. Es war der siegreiche Egoismus der Klasse, als „Wohl
der Menschheit" bezeichnet und moralisch in den Himmel erhoben.
Das Ideal des Klassenkampfes 2 erscheint zuerst in der berühmten
Propagandaschrift des Abbe Sieyes — wieder ein katholischer
Priester! — von 1789 über den tiers etat, der die beiden höheren
Stände einebnen sollte. Es entwickelt sich von dieser frührevolu-
tionären liberalen Fassung folgerichtig zu der bolschewistischen
Spätform von i848, welche den Kampf vom politischen auf das
wirtschaftliche Gebiet verlegt, nicht der Wirtschaf t wegen, son-
dern um durch ihre Zerstörung das politische Ziel zu er-
reichen. Wenn hier von „bürgerlichen" Ideologen ein Unterschied
von Idealismus und Materialismus gefunden wird, so sehen sie nicht
über den Vordergrund der Schlagworte in die Tiefe der letzten Ziele
hinein, die hier wie dort durchaus die gleichen sind. Alle Klassen-
kampftheorien sind zum Zweck der Mobilmachung großstädtischer
Massen entworfen worden. Die „Klasse" sollte erst geschaffen
werden, mit der sich kämpfen ließ. Das Ziel wurde 18^8, wo man
die ersten Erfahrungen von Revolutionen hinter sich hatte, als Dik-
tatur des Proletariats bezeichnet, und hätte dort Diktatur der Bour-
geoisie genannt werden können, denn der Liberalismus will nichts
rs sein. Das ist der letzte Sinn
1 Unt. d. Abend). I, S. &6t.
2 Polit. Schriften S. ^kü.
DIE WEISSE WELTREVOLUTION 99
und des Parlamentarismus. Aber in Wirklichkeit war jedesmal die
Diktatur der Demagogen gemeint, welche die Nationen mit Hilfe
der planmäßig demoralisierten Masse zum Teil aus Rache vernichten,
zum Teil aus Hunger nach Macht als Sklaven unter sich sehen
wollten.
Jedes Ideal stammt von einem, der es nötig hat. Das Ideal des
liberalen wie des bolschewistischen Klassenkampfes ist die Schöp-
fung von Leuten, die entweder ohne Erfolg in eine höhere Gesell-
schaftsschicht strebten oder die sich in einer befanden, deren ethi-
Das Ideal des Klassenkampfes ist der berühmte Umsturz: nicht
der Aufbau von etwas Neuem, sondern die Zerstörung von Vor-
handenem. Es ist ein Ziel ohne Zukunft. Es ist der Wille zum
Nichts. Die utopischen Programme sind nur für die seelische
Bestechung der Massen da. Ernstgemeint ist ausschließlich der
Zweck der Bestechung, die Schaffung der Klasse als Kampf -
truppe durch planmäßige Demoralisation. Nichts schmiedet besser
zusammen als der Haß. Aber man sollte hier lieber von Klassen-
neid als Klassenhaß reden. Im Haß liegt stillschweigend die An-
erkennung des Gegners. Der Neid ist der schiefe Blick von unten hin-
auf zu etwas Höherem,, das unverstanden und unerreichbar bleibt und
das man deshalb herabziehen, zu seinesgleichen machen, beschmutzen
und verachten möchte. Zum Wunschbild der proletarischen Zu-
kunft gehört deshalb nicht nur das Glück der meisten, 1 das im ver-
gnüglichen Nichtstun besteht — noch einmal : panem et circenses!
— und der ewige Friede, um es frei von aller Sorge und Ver-
antwortung zu genießen, sondern mit echt revolutionärem Ge-
1 Die liberale Formel the greatest kappiness of the greatest number stammt von den eng-
lischen Materialisten des 18. Jahrhunderts, unter denen sich gläubige Theologen wie
Paley und Butler befanden. Sie hat sich folgerichtig zu der bolschewistischen von der
Herrschaft der proletarischen Masse weiter entwickelt. Vom angeborenen Rangunter-
schied der Menschen ist keine Rede mehr. Es kommt nur noch auf das Quantum —
des Glücks wie der Glücklichen — an, nicht auf Qualitäten.
7*
DIE WEISSE WELTREV
schmack vor allem das Unglück der „Wenigen' 4 , der ehemals
Mächtigen, Klugen, Vornehmen und Reichen, an dessen Anblick
man sich weidet. 1 Jede Revolution beweist es. Daß die Lakaien
von gestern an der Tafel des Herrn schwelgen, ist nur ein halber
Genuß : der Herr muß ihnen dabei aufwarten.
Das Objekt des Klassenkampfes, das um 1789 ,,die Tyrannen* 4
waren — die Könige, „Junker" und „Pfaffen" — wurde um i85o
mit der Verlegung des politischen Kampfes auf wirtschaftliches
Gebiet „der Kapitalismus". Es ist ein hoffnungsloser Versuch,
dies Schlagwort — denn das ist es — definieren zu wollen. Es
stammt gar nicht aus wirtschaftlicher Erfahrung, sondern ist mo-
ralisch gemeint, um nicht zu sagen halb christlich. 2 Es soll den
der Überlegenheit, den Teufel, der sich in Wirtschaftserfolge ver-
kleidet hat. Es ist, sogar in gewissen bürgerlichen Kreisen, ein
Schimpfwort für alle geworden, die man nicht leiden mag, alles was
Rang hat, den erfolgreichen Unternehmer und Kaufmann so gut wie
den Richter, Off izier und Gelehrten, sogar die Bauern. Es bedeutet
alles, was nicht „Arbeiter" und Arbeiterführer ist, alle die
nicht auf Grund geringer Talente schlecht weggekommen sind. Es
faßt alle Starken und Gesunden zusammen in den Augen aller Un-
zufriedenen, allen seelischen Pöbels.
„Der Kapitalismus" ist überhaupt keine Form der Wirtschaft
oder „bürgerliche" Methode Geld zu machen. Er ist eine Art die
Dinge zu sehen. Es gibt Nationalökonomen, die ihn in der Zeit
Karls des Großen und in urzeitlichen Dörfern gefunden haben.
Die Nationalökonomie seit 1770 betrachtet das Wirtschaftsleben,
das in Wirklichkeit eine Seite des geschichtlichen Daseins der
Völker ist, vom Standpunkt des englischen Händlers aus. 3 Die
englische Nation war wirklich damals im Begriff den Welthandel
zu ihrem Monopol zu machen. Daher ihr Ruf als Krämervolk, als
Masse von shopkeepers. Der Händler ist aber nur Vermittler. Er setzt
1 Auch das ist ein Ideal christlicher Theologie, die e3 zu den Freuden d
rechnet, daß man den Martern der Verdammten zusehen darf: „Beati in
videbunt poenas damnatorum, ut beatitado Ulis magis complaceat" (Thomas von Aquino).
2 Polit. Schriften S. 77 ff.
3 Unt. d. Abendl. II, S. 583, 602. Noch Sombart (Der moderne Kapitalismus, 1919, I,
S. 319} bezeichnet den Sinn jeder Wirtschaft als Verkehrs wirtschaftliche Organisation.
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
101
das Wirtschaftsleben selbst voraus, indem er seine Tätigkeit zu dessen
Schwerpunkt zu machen sucht, von dem alle anderen Menschen in
der Rolle von Erzeugern und Verbrauchern abhängig sind. Diese
Machtstellung hat Adam Smith beschrieben. Das ist seine „Wis-
senschaft". Deshalb geht die Nationalökonomie bi3 zum heutigen
Tage vom Begriff des Preises aus und sieht statt des wirtschaft-
lichen Lebens und tätiger Menschen nur Waren und Märkte. Des-
halb wird von nun an, vor allem von der sozialistischen Theorie,
die Arbeit als Ware und der Lohn als Preis betrachtet. In
diesem System hat weder die Führerarbeit des Unternehmers und
Erfinders noch die Bauernarbeit Platz. Man sieht nur Fabrikwaren
und Hafer oder Schweine. Es dauert nicht lange und man hat den
Bauern und Handwerker ganz vergessen und denkt wie Marx bei
der Zerlegung der Menschen in Klassen nur noch an den Lohn-
arbeiter und — die andern, die „Ausbeuter '.
So entsteht die künstliche Zweiteilung der „Menschheit 4 ' in Erzeuger
und Abnehmer, 1 die sich unter den Händen der Klassenkampftheo-
retiker in den perfiden Gegensatz von Kapitalisten und Proletariern,
von Bourgeoisie und Arbeiterschaft, von Ausbeutern und Ausge-
beuteten verwandelt hat. Den Händler aber, den eigentlichen ..Ka-
pitalisten", hat man verschwiegen. Der Fabrikbesitzer und der Land-
wirt ist der sichtbare Feind, weil er die Lohnarbeit entgegen-
nimmt und den Lohn zahlt. Das ist sinnlos, aber wirksam. Die
Dummheit einer Theorie war nie ein Hindernis für ihre Wirkung.
Es handelt sich beim Urheber eines Systems um Kritik, beim Gläu-
bigen immer um das Gegenteil.
„Kapitalismus" und „Sozialismus" sind gleich alt, im innersten
verwandt, aus derselben Betrachtungsweise hervorgegangen und mit
denselben Tendenzen belastet. Der Sozialismus ist nichts als der
Kapitalismus der Unterklasse. 2 Die freihändlerische Man-
1 Sombart sagt an derselben Stelle: „Der Kapitalismus ist eine verkehrswirtschaftliche
Organisation, bei der regelmäßig zwei verschiedene Bevölkerungsgruppen: die Inhaber
der Produktionsmittel, die gleichzeitig die Leitung haben, Wirtschaftssubjekte sind und
besitzlose Nurarbeiter (als Wirtschaftsobjekte), durch den Markt verbunden, zusammen-
wirken." Aber das ist, obwohl „liberal \ schon halb marxistisch gedacht. Es paßt weder
auf den Bauern noch den Handwerker.
2 Was ich in „Preußentum und Sozialismus" beschrieben habe und was beinahe immer
mißverstanden worden ist, war der Sozialismus als ethische Haltung, nicht als
materialistisches Wirtschaftsprinzip .
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
chesterlehre Cobdens und das kommunistische System von Marx
sind beide um iSVjo und in England entstanden. Marx hat den frei-
händlerischen Kapitalismus sogar begrüßt. 1
Der „Kapitalismus you unten" will die Ware Lohnarbeit so teuer als
möglich verhandeln, ohne Rücksicht auf die Kaufkraft des Abnehmers,
und so gering als möglich liefern. Daher der Haß sozialistischer Par-
teien gegen die Qualitäts- und Akkordarbeit und ihr Streben, die
„aristokratische" Lohnspanne zwischen gelernten und ungelernten Ar-
beitern möglichst zu beseitigen. Er will durch den Streik — der erste
Generalstreik fand i84i in England statt 2 — den Preis der Handarbeit
in die Höhe treiben und ihn endlich durch Enteignung der Fabriken
und Bergwerke von der dann den Staat beherrschenden Bürokratie der
Arbeiterführer frei bestimmen lassen. Denn das ist der geheime Sinn
der Verstaatlichung. Der „Kapitalismus von unten" bezeichnet den
erarbeiteten Besitz der Begabten und Überlegenen als Diebstahl, um
ihn sich durch die größere Zahl der Fäuste ohne Arbeit aneignen
zu können. So entsteht die Theorie vom Klassenkampf, der wirt-
schaftlich gestaltet und politisch gemeint war, jenes auf die Stim-
mung der Arbeiter, dieses auf den Vorteil der Arbeiterführer be-
rechnet. Es war ein Zweck ohne Dauer. Niedrige Geister können gar
nicht über den morgigen Tag in die Ferne der Zeilen blicken und
Der Klassenkampf sollte Zerstörung bringen und
anderes. Er sollte die Mächte der Tradition, der politischen
wie der wirtschaftlichen, aus dem Wege räumen, um den Mächten
der Unterwelt die ersehnte Rache und die Herrschaft zu geben. Was
its des Sieges kommt, wenn der Klassenkampf längst Ver-
ist. daran haben diese Kreise nie einen Gedanken ver-
schwendet.
1 Er sagte 1847: „In» allgemeinen ist heutzutage das Schutzzollsystem konservativ, wäh-
rend das Freihandelssystem zerstörend wirkt. Es zersetzt die früheren Nationalitäten
und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Spitze. Mit
einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und
nur in diesem revolutionären Sinn stimme ich für den Freihandel" (Anhang zum „Elend
der Philosophie").
2 Daß der marxistische Streik aber gar kein wirtschaftliches, sondern ein politisches Ziel
hat, wird den meisten erst beim Erleben eines Generalstreiks deutlich. Deutsche Sozialisten
haben oft genug gesagt, daß nicht die gewonnenen, sondern die verlorenen Streiks für
die Partei von
zusammen.
DIE WEISSE W ELT REVOLU T ION
unendlich verwickelte Wirtschaftsleben der weißen Völker von
zwei Seiten her: die Gilde der Geldhändler und Spekulanten, die
Hochfinanz, durchdringt es mit Hilfe der Aktie, des Kredits, der
Auf sich tsräte, und macht die Führerarbeit des fachmännischen Un-
ternehmertums, in dem sich sehr viele ehemalige Handarbeiter be-
finden, die sich durch Fleiß und Genie hinaufgearbeitet haben,
von ihren Absichten und Interessen abhängig. Der eigentliche Wirt-
schaftsführer sinkt zum Sklaven des Finanzmannes herab. Er ar-
beitet am Gedeihen einer Fabrik, während sie im selben Augen-
weiß, ruiniert wird. 1
der Arbeiterführer
amie, welche die öffentliche Meinung über Wirtschaf
fragen formt und sich beratend und bestimmend in die Gesetzgebung
mischt, die der anderen das kommunistische Manifest, mit dessen
Grundsätzen von der linken Seite aller Parlamente aus ebenfalls in
die Gesetzgebung eingegriffen wird. Und beide vertreten das
Prinzip der „Internationale", das rein nihilistisch und negativ ist:
sich gegen die geschichtlichen, grenzsetzenden Formen
?orm, jede Gestalt ist Begrenzung — der Nation, des Staates,
der nationalen Wirtschaften, deren Summe nur die „Weltwirt-
schaft' 4 ist. Sie sind den Absichten der Hochfinanz wie der Berufs-
revolutionäre im Wege. Deshalb werden sie verneint und sollen
vernichtet werden.
Aber beide Arten von Theorie sind heute veraltet. Was gesagt
werden konnte, ist längst gesagt worden, und beide haben sich seit
191 8 durch ihre Voraussagen — in der Richtung auf Newyork
oder auf Moskau — so bloßgestellt, daß man sie nur noch zitiert,
ohne daran zu glauben. Die Weltrevolution hat in ihrem Schatten
begonnen. Sie ist heute vielleicht auf ihrer Höhe angelangt,
noch lange nicht zu Ende, indessen sie nimmt Formen an, die
von allem theoretischen Gerede sind.
1 Polit. Schriften S. i38ff., 3o5£.
104
DIE WEISSE WELT REVOLUTION
zu zeichnen, die heute erreicht sind. Denn die Revolution steht
am Ziel. Sie droht nicht mehr; sie triumphiert, sie hat gesiegt.
Und wenn ihre Anhänger das bestreiten, vor andern oder in voller
Bestürzung vor ihrem eigenen Gewissen, so wiederholt sich darin
nur das ewige Verhängnis menschlicher Geschichte, die dem Kämp-
fer am Ziel mit grausamer Klarheit zeigt, daß es ganz anders ist
als er hoffte und daß es meist der Mühe nicht wert war.
Dieser Erfolg ist ungeheuerlich. Er ist für alle „weißen" Völker
so furchtbar, daß niemand sieht oder zu sehen wagt, was alles dazu
gehört, daß weder die Urheber den Mut haben, sich dazu zu beken-
nen, noch die im Bürgertum erhaltenen Reste der alten Gesell-
schaft, jene als Urheber zu bezeichnen. Der Weg vom Liberalismus
zum Bolschewismus hatte sich zunächst im Kampf gegen die
politischen Mächte vollzogen. Sie sind heute zerstört, zerfressen,
zerfallen. Es hat sich wieder gezeigt, wie im Rom der Grac-
chenzeit, daß alles, was die wenigen großen starken Raubtiere, die
Staatsmänner und Eroberer, in Jahrhunderten geschaffen haben, von
den massenhaften kleinen, dem menschlichen Ungeziefer, in kurzer
Zeit zernagt werden kann. Die alten ehrwürdigen Formen des Staates
liegen in Trümmern. Sie sind durch den formlosen Parlamentaris-
mus ersetzt worden, ein Schutthaufen ehemaliger Autorität, Regie-
rungskunst und staalsmänni3cher Weisheit, auf dem die Parteien,
Horden von Geschäftspolitikern, sich um die Beute streiten. Die
ererbte Hoheit wurde durch Wahlen ersetzt, die immer neue Scharen
von Minderwertigen an die Geschäfte bringen.
Und unter diesen Parteien sind es überall die Arbeiterparteien und
deren Gewerkschaften, welche politische Zwecke mit wirtschaft-
lichen Mitteln und wirtschaftliche mit politischen Mitteln ver-
folgen, die nach Zusammensetzung des Führermaterials und mit
ihren Programmen und Methoden der Agitation für alle andern
tonangebend geworden sind. Sie werben alle um die groß-
städtische Masse und peitschen sie mit denselben sinnlosen Hoff-
nungen und erbitternden Anklagen auf. Kaum eine wagt es mehr
auszusprechen, daß sie andere Teile der Nation vertreten will als
DIE WEISSE WELTREVOLUTION 105
„den Arbeiter". Sie behandeln ihn fast ohne Ausnahme als privilegier-
ten Stand, aus Feigheit oder in der Hoffnung auf Wahlerfolge. Es
ist in allen Ländern gelungen, ihn zu demoralisieren, ihn zum an-
spruchvollsten, unzufriedensten und deshalb unglücklichsten Wesen
zu machen, ihn mit dem Pöbel der Gasse zu einer gesinnungs-
mäßigen Einheit, zur ..Klasse'' zu verschmelzen, aus ihm den seeli-
schen Typus des Proleten heranzuzüchten, der durch sein bloßes
Dasein den revolutionären Erfolg verbürgt, der Fleiß und Leistung
als Verrat an der „Sache" verachtet und dessen höchster Ehrgeiz
es ist, Massenführer und Träger der Revolution zu werden.
Es macht keinen Unterschied, ob diese Fronten des Klassenkampfes
die Gestalt bürokratischer Parteien oder Gewerkschaften erhalten
haben wie die marxistischen, katholischen und nationalen in
Deutschland, ähnlich in England, ob sie die romanische Form von
Anarchisten- und Sozialistenklubs besitzen wie in Barcelona und
Chikago, oder ob sie wie einst in Rußland und heute in Amerika
als unterirdische Bewegungen vorhanden sind, um sich erst im
Augenblick der Tat sichtbar zusammenzuballen: Sie bestehen alle
aus herrschenden Gruppen von Berufsdemagogen und einer willen-
los geleiteten Gefolgschaft, die dem kaum begriffenen Endziel zu
dienen und sich ihm zu opfern hat. Die Regierungen sind längst
ihre ausführenden Organe geworden, entweder weil die Massen-
führer selbst die parlamentarische Macht besitzen oder weil es den
Gegnern, di« sich in der Hypnose der Arbeiterideologie befinden,
an Mut zu eigenem Denken und Handeln fehlt.
Sie regieren auch die Wirtschaft, und zwar mit politischen Mitteln
zu politischem Zweck. Und dieser Zweck ist nie aus den Augen
verloren worden: es war der Klassenkampf gegen die organischen
Mächte und Formen des Wirtschaftslebens, die man „Kapitalismus"
nannte. Das letzte Ziel war deren Vernichtung, seit i848, und es
ist endlich erreicht worden. Die seit fast einem Jahrhun-
dert ekstatisch vorausgesagte Katastrophe der Wirtschaft
ist da. Die Weltwirtschaftskrise dieser und noch sehr vieler
kommenden Jahre ist nicht, wie die ganze Welt meint, die
vorübergehende Folge von Krieg, Revolution, Inflation
und Schuldenzahlung. Sie ist gewollt worden. Sie ist in
allen wesentlichen Zügen das Ergebnis einer zielbewußten
106
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
Arbeit der Führer des Proletariats. Ihre Wurzeln liegen viel
tiefer als man denkt, und ihre Wirkungen sind nur in langen und
harten Kämpfen gegen alles, was heute volkstümlich ist, und zum
großen Teil überhaupt nicht wieder zu überwinden. Aber die Vor-
aussetzung dafür ist der Mut zu sehen, was vor sich geht, und ich
fürchte, daß davon nicht viel vorhanden ist. Zu keiner Zeit ist die
Feigheit vor der allgemeinen Meinung der Parlamente, Parteien,
Redner und Schreiber der ganzen Welt größer gewesen. Sie liegen
alle auf den Knien vor dem „Volk'", der Masse, dem Proletariat
oder wie sie sonst das nennen, was den Führern der Weltrevolution
blind und ahnungslos als Waffe gedient hat. Der Vorwurf „arbeiter-
feindlich" zu sein, läßt heute jeden Politiker erbleichen.
Aber wer ist es denn, der eigentlich den Weltkrieg gewonnen hat?
Sicherlich kein Staat, weder Frankreich noch England noch Ame-
rika. Auch nicht die weiße Arbeiterschaft. Sie hat ihn zum großen
Teil bezahlt, erst mit ihrem Blut auf den Schlachtfeldern, dann
mit ihrer Lebenshaltung in der Wirtschaftskrise. Sie war das vor-
nehmste Opfer ihrer Führer. Sie wurde für deren Ziele ruiniert.
Der Arbeiterführer hat den Krieg gewonnen. W T as man in
allen Ländern Arbeiterpartei und Gewerkschaft nennt, in Wirk-
lichkeit die Gewerkschaft der Parteibeamten, die Büro-
kratie der Revolution, hat die Herrschaft erobert und regiert
heute die abendländische Zivilisation. Sie hat das „Proletariat"
von Streik zu Streik, von Straßenkampf zu Straßenkampf ge-
trieben, und ist selbst von einem verheerenden Parlamentsbeschluß
zum anderen fortgeschritten, durch eigene Macht oder infolge der
Angst des besiegten Bürgertums. Alle Regierungen der Welt wurden
seit 1916 in rasch steigendem Maße von ihnen abhängig und
mußten ihre Befehle vollziehen, wenn sie nicht gestürzt werden
wollten. Sie mußten die brutalen Eingriffe in die Struktur und den
Sinn des Wirtschaftslebens zulassen oder selbst durchführen, die
sämtlich zugunsten der Arbeit niedersten Ranges, der bloß aus-
führenden Handarbeit erfolgten in Gestalt von maßlosen Lohn-
erhöhungen und Kürzungen der Arbeitszeit, von verwüstenden
Steuergesetzen gegen den Ertrag der Führerleistung, gegen alten
Familienbesitz, gegen das Gewerbe und gegen das Bauerntum. Die
Ausraubung der Gesellschaft wurde durchgeführt. Es war
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
die Löhnung der Söldner im Klassenkampf. Der natürliche
Schwerpunkt des Wirtschaftskörpers, das Wirtschafts denken der
Kenner, wurde durch einen künstlichen, unsachlichen,
politischen ersetzt. Das Gleichgewicht ging verloren und d
stürzte ein. Aber das war seit Jahrzehnten das offen ausgespro-
chene Ziel des abendländischen Bolschewismus; die Wirtschafts-
katastrophe war also ein taktischer Erfolg, so wenig die Arbeiter-
schaft das ahnte oder gewollt hat. Dieser seit i848 im voraus ge-
schilderte, von Bebel mit Begeisterung gepriesene Umsturz des „Ka-
pitalismus", das „ Jüngste Gericht" über die Bourgeoisie, sollte
allerdings die ersehnte Diktatur des Proletariats, das heißt seiner
Schöpfer und Führer von selbst zur Folge haben.
Aber ist da
war die Gewerkschaftsrepublik in Deutschland etwas anderes? Ist
nicht in den nationalen Arbeiterparteien Deutschlands, Englands
und sogar Italiens der wirtschaftliche, bürokratisch verwaltete So-
zialismus das herrschende Ideal? Liegen nicht auf den Trümmern
der Weltwirtschaft die schöpferischen Wirtschaftsbegabungen, die
Träger des privaten Wirtscbaftsstrebens, als Opfer dieser Diktatur?
Der Wirtschaftsführer, der Kenner des Wirtschaftslebens, ist
vom Parteiführer verdrängt worden, der nichts von Wirtschaft und
um so mehr von demagogischer Propaganda versteht. Er herrscht
als Bürokrat in der wirtschaftlichen Gesetzgebung, die den freien
Entschluß des Wirtschaftsdenkers ersetzt hat, als Leiter von unzäh-
ligen Ausschüssen, Schiedsgerichten, Konferenzen. Minister ialbüros
und wie die Formen seiner Diktatur sonst heißen mögen, sogar im
faschistischen Korporationsministerium. Er will den wirtschaft-
lichen Staatssozialismus, die Ausschaltung der Privatinitiative, die
Planwirtschaft, was alles im Grunde das gleiche ist, nämlich Kom-
munismus. Mag mit dem Unternehmer auch der Arbeiter das Opfer
sein, jedenfalls hat der „Arbeiterführer" von Beruf endlich die
ersehnte Gewalt in Händen und kann die Rache der Unterwelt an
den Menschen vollziehen, die durch das Schicksal ihrer Geburt, das
ihnen Talente und Überlegenheit verlieh, berufen waren, die Dinge
von oben zu sehen und zu leiten.
sten werden es mit Entsetzen
Zusammenbruch von
Jahrhunderte aufgebaut haben, als gewollt, als das Ergebnis einer
zielbewußten Arbeit zu erkennen. Aber es ist so und es läßt sich be-
weisen. Diese Arbeit beginnt, sobald die Berufsrevolutionäre der
Generation yon Marx begriffen hatten, daß in Nordwesteuropa die
an die Kohle gebundene Industrie zum wichtigsten Teil des Wirt-
schaftslebens wurde. Das nackte Dasein der ins Massenhafte wach-
senden Nationen hing von ihrer Blüte ab. In England war das schon
der Fall ; für Deutschland hoffte man darauf,, und diese Doktrinäre,
le die Welt durch das Schema von Bourgeoisie und Proletariat
setzten als selbstverständlich voraus, daß es überall so wer-
den müsse. Aber wie stand es denn mit Spanien und Italien, wo es
keine Kohle gab, selbst mit Frankreich, um von Rußland ganz zu
schweigen? 1 Es ist zum Erstaunen, wie eng der Horizont dieser Theo-
logen des Klassenkampfes war und blieb, und wie wenig das bis
heute bemerkt worden ist. Haben sie jemals Afrika. Asien, Latein-
zeiungen gezogen? Haben sie einen Gedanken an die farbigen Ar-
beiter der tropischen Kolonien verschwendet? Waren sie sich be-
wußt, warum das unterblieb und unterbleiben mußte? Sie redeten
von der Zukunft der „Menschheit", und statt den ganzen Planeten
mit ihrem Blick zu umfassen, starrten sie auf ein paar Länder Euro-
pas, deren Staat und Gesellschaft sie zerstören wollten.
Hier aber haben sie gesehen, daß das erreichbar war, wenn sie die
Lebensfähigkeit der Industrie vernichteten : und so begann der plan-
mäßige Angriff auf sie dadurch, daß man ihre organisierte Arbeit
unmöglich zu machen suchte. Das geschah, indem man zunächst
im Gegensatz zur Führerarbeit der Unternehmer, Erfinder und In-
genieure 2 die tägliche Dauer der ausführenden Lohnarbeit in den
zur zweiten x\
ngels eine
widerspricht. Da soll der Wi
apital" vö
'ommunismus auf einmal statt Ober die
mern, den „Mir"
führen. Es gab hier weder Bourgeoisie noch Proletariat im westeuropäischen Sinne —
deshalb formten die beiden Demagogen ihre „Überzeugung" nach der Masse, die sie gegen
den petrinischen Staat mobil machen wollten. Die .Arbeiterführer" von Moskau haben
dann aber, der westlichen „Wahrheit" folgend, den Kampf gegen den Bauern zugunsten
einer kaum vorhandenen Arbeiterschaft aufgenommen.
2 Diese geistige Arbeit ist Oberhaupt nicht nach der Stundenzahl zu begrenzen. Sie
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
109
Sie betrug im 1 8. Jahrhundert, in Übereinstimmung mit der allge-
meinen Arbeitsgewohnheit von nordischen Bauern und Handwer-
kern, mehr als zwölf Stunden, ohne gesetzlich festgelegt zu sein.
Im Anfang des 19. Jahrhunderts wird sie in England auf zwölf
Stunden beschränkt, um i85o durch die gerade auch yon Arbeitern 1
erbittert bekämpfte Zehnstundenbill weiter herabgesetzt. Nachdem
die Bill endgültig gesichert war, wurde sie in revolutionären Kreisen
als Sieg der Arbeiterschaft und — mit Recht— als „Knebelung der
Industrie" gefeiert. Man glaubte ihr damit einen tödlichen Schlag
versetzt zu haben. Von da an übernahmen es die Gewerkschaften
aller Länder mit steigendem Nachdruck, sie weiter zu kürzen und
auf alle Lohnempfänger auszudehnen. Gegen Ende des Jahrhun-
derts betrug sie 9, am Ende des Weltkrieges 8 Stunden. Heute, wo
wir uns der Mitte des 20. Jahrhunderts nähern, wird die 4o-Stun-
den- Woche zum Minimum der revolutionären Forderung. Da gleich-
zeitig das Verbot der Sonntagsarbeit immer strenger durchgeführt
wurde, so liefert der Einzelne von seiner „Ware Arbeit" nur noch
die Hälfte des ursprünglichen, möglichen und natürlichen Quan-
tums. Und so ist „der Arbeiter", der nach der Lehre der marxisti-
schen Religion allein arbeitet, zum großen Teil gegen seinen Willen
derjenige geworden, der es am wenigsten tut. Welcher Beruf ver-
trägt sich sonst mit einer so geringen Leistung?
Es war das Kampfmittel des Streiks in einer verschleierten,
langsam wirkenden Form. Es bekam einen Sinn aber erst durch
die Tatsache, daß der Preis für diese „Ware", der Wochen-
lohn, nicht nur nicht verkürzt, sondern dauernd hinauf-
getrieben wurde. Nun ist der „Wert", der wirkliche Ertrag der
ausführenden Arbeit keine selbständige Größe. Er ergibt sich aus
dem organischen Ganzen der Industriearbeit, in welcher der aus-
zuführende Gedanke, die Führerarbeit der Leitung und Regelung
losen Nächten; sie macht ein wirkliches Freisein vom Nachdenken, ein Ab- und Aus-
spannen unmöglich und verbraucht gerade die überlegenen Exemplare vor der Zeit.
Kein Lohnarbeiter geht an Überanstrengung oder durch Irrsinn zugrunde. Hier ereigne!
es sich in zahllosen Fällen: Dies zur Beleuchtung des demagogischen Bildes vom
schlemmenden und faulenzenden Bourgeois.
1 Weil sie sich nicht verbieten lassen wollten, ihre Arbeitskraft voll auszunutzen wie
jeder Schneider und Tischler. Dies gesunde Gefühl bricht trotz der Agitation aller
Arbeiterparteien immer wieder durch, in dem Wunsch nach Oberstunden und Neben-
beschäftigung.
des Verfahrens, der Heranführung von Stoffen, des Absatzes der Er-
zeugnisse, des Durchdenkens von Kosten und Ertrag, von Anlagen
und Einrichtungen, von neuen Möglichkeiten viel entscheidender
sind. Der Gesamtertrag hängt vom Rang und der Leistung der Köpfe
ab, nicht von den Händen. Ist kein Ertrag da, ist das Produkt unver-
käuflich, so ist die ausführende Arbeil werllos gewesen und kann
eigentlich überhaupt nicht bezahlt werden. So ist es beim Bauern
und Handwerker. Aber durch die Tätigkeit der Gewerkschaften ist
der Stundenlohn des Handarbeiters aus der Einheit des Organismus
herausgenommen worden. Er wird vom Parteiführer bestimmt,
nicht vom Wirtschaftsführer errechnet, und er wird, wenn er
von diesem nicht bewilligt wird und werden kann, durch Streik,
Sabotage und den Druck auf die parlamentarischen Regierungen er-
zwungen. Er ist seit hundert Jahren, am Ertrag der bäuerlichen
worden. Jeder wirtschaftlich Tätige ist mit seinem Gewinn von der
Lage der Wirtschaft abhängig, nur der Lohnarbeiter nicht. Er hat
Anspruch auf die anorganisch festgesetzte und parteipolitisch
erkämpfte Lohnhöhe, auch wenn sie nur durch den Verfall der An-
lagen, durch Ertragslosigkeit des Ganzen, durch Verschleuderung
der Erzeugnisse gehalten wird — bis die Werke erliegen. Und dann
geht ein schadenfrohes Triumphgefühl durch die Reihen der „Ar-
beiterführer 1 . Sie haben wieder einen Sieg auf dem Wege zum
„Endziel* £ davongetragen.
Heute, wo die Entstehung der Klassenkampftheorie fast ein Jahr-
hundert zurückliegt und niemand mehr wirklich an sie glaubt, ist
es zweifelhaft, ob diese Führer sich noch des Zweckes bewußt sind,
um dessen willen diese Zerstörungsarbeit einst gefordert und be-
gonnen worden ist. Aber es gibt eine nun schon alt gewordene Tra-
dition und Methode unter ihnen, wonach sie unaufhörlich für Kür-
zung der Arbeit und Steigerung des Lohnes wirken müssen. Es ist
der Nachweis ihrer Befähigung vor der Partei. Und wenn heute der
ursprüngliche dogmatische Sinn vergessen ist und das gute Gewissen
des Gläubigen fehlt, so ist doch die Wirkung da., die sie nun auf
andere „Ursachen" zurückführen — ein neues Mittel der Agitation,
die Feststellung einer neuen Schuld gegenüber der Arbeiterschaft,
DIE WEISSE WELTREVOLUTION III
Einst hatte die Lehre vom „Mehrwert" Gewalt über das unent-
wickelte Denken der Masse gehabt : Der g a n z e Ertrag der industriellen
Produktion war gleich dein Wert der ausführenden Handarbeit und
mußte auf sie verteilt werden. Was der Wirtschaftsführer davon
abzog, für Erhaltung der Werke, Bezahlung der Rohstoffe,. Gehäl-
ter, Zinsen, der „Mehrwert" also, war Diebstahl. Die Führer, Er-
finder, Ingenieure arbeiteten überhaupt nicht, und jedenfalls besaß
eine geistige Arbeit, die nur eine Art von Nichtstun war, keinen hö-
heren Wert. Es war dieselbe „demokratische" Tendenz, welche die
Qualität jeder Art mißachtete und zu vernichten suchte und nur das
Quantum gelten ließ, auch bei der Handarbeit selbst: Der „aristo-
kratische" Unterschied von gelernten und ungelernten Arbeitern
sollte aufgehoben sein. Sie sollten denselben Lohn erhalten. Ak-
kordarbeit und höhere Leistungen wurden als Verrat an der „Sache"
gebrandmarkt. Auch das hat sich, gerade in Deutschland seit 191 8,
durchgesetzt. Es schaltete die Konkurrenz unter Arbeitern aus, er-
stickte den Ehrgeiz des besseren Könnens und verminderte da-
durch wieder die Gesamtleistung. Daß das alles Nihilismus
war, Wille zur Zerstörung, zeigt die heutige Praxis von Moskau, wo
in jeder Beziehung der Zustand von 1 84o wieder hergestellt wurde,
sobald man „am Ziel" war: lange Arbeitszeit, niedrige Löhne, die
größte Spannung der Welt — größer selbst als in Amerika — zwi-
schen der Bezahlung gelernter und ungelernter Arbeit und der Im-
port fremder Ingenieure statt der eigenen, die man abgeschlachtet
hatte, weil sie nach der Lehre des kommunistischen Manifestes den
Arbeiter nur ausbeuteten, ohne etwas zu leisten, und deren Wert
man erst nachher begriff.
Die Meinung, daß dem Arbeiter der „volle Wert" seiner Arbeit zu-
stehe, was mit dem Gesamtertrag des Unternehmens gleichgesetzt
wurde — ein Rest von Theorie also — blieb bis zum Ende des Jahr-
hunderts in Geltung. Damit war wenigstens eine natürliche Grenze
der Lohnforderungen anerkannt. Daneben und darüber hinaus ent-
wickelte sich aber, etwa seit den siebziger Jahren, die ganz untheo-
retische Methode der Lohner pressung durch den politischen Druck
der Arbeiterorganisationen. Hier war keine Rede mehr von Grenzen,
welche das Wirtschaftsleben dieser Ausraubung zugunsten einer
Klasse setzte, sondern nur noch von den Grenzen der politischen,
parlamentarischen, revolutionären Macht. In fast allen „weißen"
eine ungesetzliche, aber mächtige Nebenregierung der Gewerkschaf-
Mächten dadurch zu erkaufen, daß sie ihnen die Erlaubnis zum
Regieren erteilten. Die „Stimmung der Arbeiterschaft", die von den
Parteiführern gehandhabt wurde, war ausschlaggebend für alles ge-
worden, wozu die parlamentarischen Regierungen sich zu entschlie-
ßen wagten. So entstand die Tatsache der politischen Löhne,
für die es natürliche, wirtschaftliche Grenzen nicht mehr
gab. Die Tariflöhne, welche der Staat zu schützen verpflichtet war,
wurden von der Partei festgesetzt, nicht von der Wirtschaft berech-
net, und die Tarif hoheit der Gewerkschaften wurde zu einem Recht,
das keine bürgerliche Partei oder Regierung anzutasten oder in
Zweifel zu ziehen wagte. Der politische Lohn ging sehr bald über
den „vollen Wert der Arbeit" hinaus. Er hat, mehr als Konkurrenz
und Überproduktion, die Industrie der „weißen" Länder aus Not-
wehr und Selbsterhaltungstrieb in eine Entwicklung gedrängt, deren
Ergebnis in der Katastrophe der Weltwirtschaft heute vor unseren
Augen liegt. Der Lohnbolschewismus, mit Streik, Sabotage,
Wahlen, Regierungskrisen arbeitend, entzog dem Wirtschaftsleben
der Nationen — nicht Deutschlands allein — so viel Blut, daß es in
fieberhaftem Tempo versuchen mußte, diese Verluste auf jede denk-
bare Weise zu ersetzen.
Man muß wissen, was alles zum Begriff des politischen Lohnes ge-
hört, um den Druck dieser Lohndiktatur auf das gesamte Wirt-
schaftsleben der Völker zu ermessen. Er umfaßt, über die Geld-
zahlung weit hinausgehend, die Sorge für das gesamte Dasein „des
Arbeiters", die ihm abgenommen und „den anderen" aufgebürdet
wurde. „Der Arbeiter" ist zum Pensionär der Gesellschaft, der Na-
tion geworden. Jeder Mensch hat sich, wie jedes Tier, gegen das un-
berechenbare Schicksal zu wehren oder es zu tragen. Jeder hat seine
persönliche Sorge, die volle Verantwortung für sich selbst,
die Notwendigkeit durch eigenen Entschluß in allen Gefahren
cinz'
daran.
DIE WEISSE WELTREVOLUTION US
Bauern die Folgen von Mißernte, Viehseuchen, Brand und Absatz-
nöten, den Handwerkern, Ärzten, Ingenieuren, Kauf leuten, Gelehrten
die Gefahren des wirtschaftlichen Ruins und der Beruf suntauglich-
keit infolge von mangelnder Eignung, Krankheit oder Unglücks-
fällen auf Kosten anderer abzunehmen. Jeder mag selbst und
auf eigene Kosten sehen, wie er dem begegnet, oder er mag die
Folgen tragen und betteln oder nach seinem Belieben in anderer
Weise zugrunde gehen. So ist das Leben. Die Sucht des Versichert-
seinwollens — gegen Alter, Unfall, Krankheit, Erwerbslosigkeit,
also gegen das Schicksal in jeder denkbaren Erscheinungsform,
ein Zeichen sinkender Lebenskraft — hat sich von Deutschland aus-
gehend im Denken aller weißen Völker irgendwie eingenistet. Wer
ins Unglück gerät, schreit nach den andern, ohne sich selbst helfen
zu wollen. Aber es gibt einen Unterschied, der den Sieg des mar-
xistischen Denkens über die ursprünglich germanischen, die in-
dividualistischen Triebe der Verantwortungsfreude, des persön-
lichen Kampfes gegen das Schicksal, des „amor fati" bezeichnet.
Jeder sonst sucht nach eigenem Entschluß und durch eigne Kraft
dem Unvorhergesehenen auszuweichen oder entgegenzutreten, nur
„dem Arbeiter" wird auch dieser Entschluß erspart. Er allein kann
sich darauf verlassen, daß andere für ihn denken und handeln. Die
entartende Wirkung dieses Freiseins von der großen Sorge, wie
man sie an Kindern sehr reicher Familien beobachtet, 1 hat die ge-
samte Arbeiterschaft gerade in Deutschland ergriffen: sobald sich
irgendeine Not zeigt, ruft man den Staat, die Partei, die Gesellschaft,
jedenfalls „die anderen" zu Hilfe. Man hat es verlernt, selbst Ent-
schlüsse zu fassen und unter dem Druck wirklicher Sorgen zu
leben.
Aber das bedeutet eine weitere Belastung der höheren Arbeit einer
Nation zugunsten der niederen. Denn auch dieser Teil des politischen
Lohnes, die Versicherung jeder Art gegen das Schicksal, der Bau von
Arbeiterwohnungen — es fällt niemandem ein, dasselbe für Bauern-
1 Dafür wird dann die kleine Sorge in Gestalt von „Problemen" der Mode, der Küche,
des ehelichen und unehelichen Liebesgeränkes und vor allem der Langeweile, die zum
Überdruß am Leben führt, zu lacherlicher Wichtigkeit emporgel rieben. Man macht aus
Vegetarismus, Sport, erotischem Geschmack eine „Weltanschauung". Man begeht Selbst-
mord, weil man das ersehnte Abendkleid oder den gewünschten Liebhaher nicht be-
kommen hat oder weil man sich über Rohkost und Ausflüge nicht einigen kann.
Spengler, Jahre I 8
114 DIE WEISSE WELTREVOLUTION
käuser zu verlangen — , die Anlage von Spielplätzen, Erholungsheimen,
Bibliotheken, die Sorge für Vorzugspreise von Lebensmitteln, Bahn-
andern" für die Arbeiterschaft bezahlt. Gerade das ist ein sehr
wesentlicherTeil des politischen Lohnes, an den man nicht zu
denken pflegt. Indessen ist der Nationalreichtum, auf dessen in Zahlen
angegebene Höhe man sich verläßt, eine nationalökonomische
Fiktion. Er wird — als „Kapital" — aus dem Ertrag der wirtschaft-
lichen Unternehmungen oder dem Kurs von Aktien, der von der Ver-
zinsung abhängt, errechnet und sinkt mit ihnen, wenn der Wert der
arbeitenden Werke durch die Höhe der Lohnbelastung in Frage gestellt
wird. Eine Fabrik, die so zum Stilliegen kommt, ist aber nicht mehr
wert, als für das Abbruchsmaterial gezahlt wird. Die deutsche Wirt-
schaf t hat unter der Diktatur der Gewerkschaften vom i . Januar 1925
bis Anfang 1929, also in vier Jahren, eine jährliche Mehrbelastung
durch Erhöhung von Löhnen, Steuern und sozialen Abgaben von
18225 Millionen Mark erfahren. 1 Das ist ein Drittel des ge-
samten Nationaleinkommens, das einseitig verlagert wurde.
Ein Jahr später war diese Summe auf weit über 20 Milliarden ange-
wachsen. Was bedeuteten demgegenüber die 2 Milliarden Repara-
tionen! Sie gefährdeten die Finanzlage des Reiches und die Wäh-
rung. Ihr Druck auf die Wirtschaft kam gegenüber den Wirkungen
des Lohnbolschewismus überhaupt nicht in Betracht. Es war die
Expropriation der gesamten Wirtschaft zugunsten einer Klasse.
16
Es gibt höhere und niedere Arbeit: das läßt sich weder leugnen
noch ändern; es ist* der Ausdruck für die Tatsache, daß es Kultur
gibt. Je höher sich eine Kultur entwickelt, je mächtiger ihre Ge-
staltungskraft, desto größer wird der Unterschied von maßgeben-
dem und untergeordnetem Tun jeder Art, sei es politisch, wirt-
schaftlich oder künstlerisch. Denn Kultur ist gestaltetes, durch-
schung einen immer höheren Rang der Persönlichkeit voraussetzt.
Es gibt Arbeit, zu der man innerlich berufen sein muß, und andere,
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
115
die man tun muß, weil man nichts Besseres kann, um davon zu
leben. Es gibt Arbeit, der nur ganz wenige Menschen von Rang ge-
wachsen sind, und andere, deren ganzer Wert in ihrer Dauer, ihrem
Quantum besteht. Zur einen wie zur anderen wird man geboren.
Das ist Schicksal. Das läßt sich nicht ändern, weder durch ratio-
nalistische noch durch sentimental-romantische Gleichmacherei.
Der Gesamtaufwand an Arbeit, den die abendländische Kultur in
Anspruch nimmt, der mit ihr identisch ist, wird mit jedem Jahr-
hundert größer. Er betrug zur Zeit der Reformation das Vielfache
von dem im Zeitalter der Kreuzzüge und wuchs mit dem 18. Jahr-
hundert ins Ungeheure, im Einklang mit der Dynamik der schöpfe-
rischen Führerarbeit, welche die niedere Massenarbeit in immer grö-
ßerem Umfange notwendig gemacht hat. Aber deshalb will der pro-
letarische Revolutionär, der die Kultur von unten sieht und sie nicht
begreift, weil er sie nicht hat, sie vernichten, um Qualitätsarbeit
und Arbeit überhaupt zu sparen. Gibt es keinen Kulturmenschen mehr
— den er für Luxus und überflüssig hält — , so gibt es weniger und
vor allem geringere Arbeit, die jeder leisten kann. In einer sozialisti-
schen Zeitung las ich einmal, daß nach den Geldmiilionären die
Gehirnmillionäre abgeschafft werden müßten. Man ärgert sich über
die wirklich schöpferische Arbeit, man haßt ihre Überlegenheil, man
beneidet ihre Erfolge, ob sie nun in Macht oder Reichtum bestehen.
Die Scheuerfrau des Krankenhauses ist ihnen wichtiger als der
leitende Arzt; der Ackerknecht ist mehr wert als der Landwirt, der
Getreidearten und Viehrassen züchtet, der Heizer mehr als der Er-
finder der Maschine. Eine Umwertung der wirtschaftlichen Werte,
um einen Ausdruck Nietzsches zu gebrauchen, hat sich vollzogen, und
spiegelt, so soll die niedere Massenarbeit besser bezahlt werden als die
höhere der führenden Persönlichkeiten, und das wird erreicht.
„weiße" Arbeiter, um die Wette umschmeichelt und verwöhnt von
den Führern der Arbeiterparteien und der Feigheit des Bürgertums,
wird ein Luxustier. Man lasse doch den albernen Vergleich mit Mil-
lionären aus dem Spiel, die es „besser haben". Es kommt nicht auf
Leute an, die in Schlössern wohnen und Dienerschaft halten. Man
8*
116 DIE WEISSE WELTREVOLUTION
arbeitersmit dem eines Kleinbauern. Um i84o war die Lebenshaltung
beider Klassen etwa dieselbe. Heute arbeitet der erste viel weniger als
der andre, aber die Art, wie der Bauer, gleichviel ob in Pommern,
Yorkshire oder Kansas, wohnt, ißt und sich kleidet, ist gegenüber
dem, was ein Metallarbeiter vom Ruhrgebiet bis nach Pennsylvanien
hin für seinen Unterhalt und vor allem für sein Vergnügen ausgibt,
so erbärmlich, daß der Arbeiter sofort streiken würde, wenn man ihm
zumutete, jemals wieder für die doppelte Arbeit und die ewige Sorge
um Mißernte, Absatz und Verschuldung diese Lebenshaltung in Kauf
zu nehmen. Was in den großen Städten des Nordens als Existenz-
minimum und als „Elend" betrachtet wird, würde in einem Dorf
eine Wegstunde davon schon als Verschwendung erscheinen, ganz
abgesehen vom Lebensstil im Gebiet des südeuropäischen Agrar-
kommunismus, wo die Anspruchslosigkeit farbiger Völker noch zu
Hause ist. Aber dieser Luxus der Arbeiterschaft, die Folge der
politischen Luxuslöhne, ist da und wer bezahlt ihn? Die geleistete
Arbeit nicht. Ihr Ertrag ist bei weitem nicht soviel wert. Es müssen
andere arbeiten, der ganze Rest der Nation, um ihn zu bestreiten.
Es gibt Narren — wenn Ford ernst gemeint hat, was er sagte und
schrieb, gehört er dazu — , die glauben, daß die gesteigerte „Kauf-
kraft" der Arbeiter die Wirtschaft auf der Höhe halte. Aber haben
die unbeschäftigten Massen Roms seit der Gracchenzeit das getan?
Man redet vom Binnenmarkt, ohne darüber nachzudenken, was das
in Wirklichkeit ist. Man mache doch die Probe auf dies neue Dogma
der „weißen" Gewerkschaften und entlohne die Arbeiter statt mit
Geld mit den Erzeugnissen ihrer eigenen Arbeit, mit Lokomotiven,
Chemikalien und Pflastersteinen, für deren Verkauf sie selbst zu
sorgen hätten.
Sie wüßten nichts damit anzufangen. Sie würden entsetzt darüber
sein, wie wenig diese Dinge wert sind. Es würde sich außerdem zeigen,
daß zum Geldausgeben höherer Art derselbe Grad von Kultur gehört,
dieselbe Durchgeistigung des Geschmacks wie zum Geldverdienen
durch überlegene Leistungen. Es gibt vornehmen und gemeinen
Luxus, daran ändert man nichts. Es ist der Unterschied zwischen
einer Oper you Mozart und einem Operettenschlager. Den Luxus-
löhnen entspricht nun einmal kein verfeinertes Luxusbedürfnis. Es
ist allein die Kaufkraft der höheren Gesellschaft, welche eine Quali-
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
tätsindustrie möglich macht. Die niederen Schichten ernähren nur
eine Vergnügungsindustrie, „circenses" , heute wie im alten Rom.
Aher dieser vulgäre Luxus der großen Städte — wenig Arbeit, viel
Geld, noch mehr Vergnügen — übte eine verhängnisvolle Wir-
kung auf die hart arbeitenden und bedürfnislosen Menschen des
flachen Landes aus. Man lernte dort Bedürfnisse kennen, von denen
die Väter sich nichts hatten träumen lassen. Entsagen ist schwer,
wenn man das Gegenteil vor Augen hat. Die Landflucht begann,
erst der Knechte und Mägde, dann der Bauernsöhne, zuletzt ganzer
Familien, die nicht wußten, ob und wie sie das väterliche Erbe
gegenüber dieser Verzerrung des Wirtschaftslebens halten könnten.
Es war in allen Kulturen auf dieser Stufe das gleiche. Es ist nicht
wahr, daß Italien seit der Zeit Hannibals durch den Großgrundbesitz
entvölkert worden wäre. Das „panem et circenses" der Weltstadt
Rom hat es getan, und erst das menschenleer und wertlos gewordene
irte zur Entwicklung der Latifundienwirtschaft mit Sklaven. 1
Wüste geworden. Die Entvölkerung der Dörfer be-
gann i84o in England, 1880 in Deutschland, 1920 im mittleren
Westen der Vereinigten Staaten. Der Bauer hatte es satt, Arbeit
ohne Lohn zu tun, während die Stadt ihm Lohn ohne Arbeit ver-
sprach. So ging er davon und wurde „Proletarier".
Der Arbeiter selbst war unschuldig daran. Er empfindet seine
Lebenshaltung gar nicht als Luxus, im Gegenteil. Er ist elend und
unzufrieden geworden wie jeder Privilegierte ohne eignes Verdienst.
Was gestern das Ziel ausschweifender Wünsche war, ist heute selbst-
verständlich geworden und erscheint morgen als Notstand, der nach
Abhilfe schreit. Der Arbeiterführer hat den Arbeiter verdorben, als
er ihn zum Prätorianer des Klassenkampfes wählte. Zur Zeit des
Proletarier gemacht werden, heute wird er zu gleichem Zweck
mit der Hoffnung gefüttert, es eines Tages nicht mehr zu sein.
Aber hier wie dort hat die unverdiente Höhe des politischen Lohnes
dahin geführt, immer mehr für unentbehrlich zu halten.
Aber kann dieser Lohn, der eine selbständige Größe neben
der Wirtschaft geworden ist, überhaupt noch bezahlt werden?
1 Unt. d. Abendl. II, S. 126.
118
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
Stellung vom Ertrag der Wirtschaft sich unter dem Druck
Lohnerpressungen unbemerkt verändert hat. Nur ein gesundes Wirt-
schaftsleben kann fruchtbar sein. Es gibt einen natürlichen, unge-
zwungenenErtrag, solange der Lohn der ausf ührenden Arbeit alsFunk-
tion von ihm abhängt. Wird dieser eine unabhängige — politische
— Größe, ein ununterbrochener Aderlaß, den kein lebender Körper
des Wirtschaftens, ein Wettrennen zwischen dem Absatz, der an der
Spitze bleiben muß, wenn nicht das Ganze erliegen, sich verbluten
soll, und den vorauseilenden Löhnen samt Steuern und sozialen Ab-
gaben, die indirekte Löhne sind. Das fieberhafte Tempo der Produk-
tionssteigerung geht zum großen Teil vondie s er geheimen Wunde
Reklame greift um sich ; der Fernabsatz unter farbigen Völkern wird
auf jede denkbare Weise ausgedehnt und erzwungen. Der wirt-
schaftliche Imperialismus der großen Industriestaaten, der mit mili-
tärischen Mitteln Absatzgebiete sichert und in ihrer Rolle als solche
zu erhalten sucht, wird in seiner Intensität auch durch den Selbst-
erhaltungstrieb der Wirtschaftsführer bestimmt, welche der bestän-
ruft. Sobald irgendwo in der „weißen" Welt ein wirkliches oder
scheinbares Aufatmen der Industrie stattfindet, melden die Ge-
die gar nicht vorhanden sind, zu sichern. Als in Deutschland die
Reparationszahlungen eingestellt wurden, hieß es sofort, daß diese
„Ersparnisse" der Arbeiterschaft zugute kommen müßten. Die na-
türliche Folge der Luxuslöhne war eine Verteuerung der Produktion
— also ein Sinken des Geldwertes — , und auch da wurde politisch
eingegriffen, indem die Verkaufspreise gesetzlich gehalten oder ge-
senkt wurden, um die Kaufkraft der Löhne zu sichern. Deshalb
wurden um i85o in England die Kornzölle aufgehoben — eine ver-
schleierte Lohnerhöhung also — und damit der Bauer dem Ar-
beiter geopfert, was seitdem überall versucht oder durchgeführt
worden ist, zum Teil mit der absurden nationalökonomischen Be-
gründung von Bankiers und ähnlichen „Sachverständigen", daß
len
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
119
Was dann aus der Bauernschaft der Industrieländer werden sollte,
danach fragte niemand. Sie war bloßes Objekt der Arbeiterpolitik.
Sie war der eigentliche Feind für das Monopol der Arbeiterinter-
essen. Alle Arbeiterorganisationen sind bauernfeindlich, ob sie es
zugeben oder bestreiten. Aus dem gleichen Grunde wurde der Preis
für Kohle und Eisen unter parlamentarischem Druck festgesetzt,
ebenso wurden Vorzugspreise aller Art für die Arbeiterschaft er-
zwungen, die dann durch Erhöhung der Normalpreise für „die
andern" ausgeglichen werden mußten. Ob der Absatz darunter litt
oder unmöglich wurde, war eine Privatangelegenheit des Unter-
nehmertums, und je mehr es in seiner Stellung erschüttert wurde,
desto siegreicher fühlten sich die Gewerkschaften.
Eine Folge dieser Wirkungen des Klassenkampf es war der steigende
Bedarf der produktiven Wirtschaft an „Kredit", an „Kapital", also
an eingebildeten Geldwerten, die nur so lange vorhanden sind,
als man an ihre Existenz glaubt, und die sich bei dem geringsten
Zweifel in Form eines Börsenkrachs in nichts auflösen. Es war
der verzweifelte Versuch, zerstörte echte Werte durch Wertphan-
tome zu ersetzen. Die Blütezeit einer neuen hinterlistigen Art von
Banken begann, welche die Unternehmungen finanzierten und damit
ihre Herren wurden. Sie gaben nicht nur Kredit, sondern sie er-
zeugten ihn auf dem Papier als gespenstisches, heimatlos schwei-
fendes Finanzkapital. In immer rascherem Tempo wird alter
Familienbesitz in Aktiengesellschaften umgewandelt, beweglich ge-
macht, um mit
und Einnahme zu füllen.
Wirtschaft — denn zuletzt sind Aktien nichts als
eine Schuld — wuchs ins Ungeheure, und als deren Verzinsung
neben der Lohnzahlung eine für diese bedenkliche Größe zu werden
begann, tauchte das letzte Mittel des Klassenkampfes auf, die
Forderung nach Enteignung der Werke durch den Staat: damit
zogen und zu Staatsgehältern werden, die von den regierenden
Arbeiterparteien nach freiem Ermessen festgesetzt wurden und für
120
DIE WEISSE W ELT REV OLU T I ON
Die letzten, entscheidenden. Folgen dieses Wahnsinns der Luxus-
löhne treten seit 1910 rasch zutage: die zunehmende Verödung
des bäuerlichen Landes führte immer größere Massen in den Bereich
des großstädtischen panem et circenses und verführte die Industrie
zu immer größerer Ausdehnung der Werke, für deren Absatz man
noch keine Sorge nötig zu haben glaubte. In die Vereinigten Staaten
wanderten 1900 — i4 fünfzehn Millionen ländlicher Menschen
aus Süd- und Osteuropa ein, während die Farmbevölkerung be-
reits abnahm. 1 In Nordeuropa erfolgte eine Binnenwanderung von
gleichem Ausmaß. Im Bergwerksgebiet von Briey arbeiteten 191 4
mehr Polen und Italiener als Franzosen. Und über diese Entwick-
lung brach nun das Verhängnis von einer Seite herein, welche die
Führer des Klassenkampfes nie in den Kreis ihrer Berechnungen
gezogen, welche sie nicht einmal bemerkt hatten.
Marx hatte die Industriewirtschaft der weißen" Länder des Nor-
Er blickte immer nur auf deren Heimat, auf England, Frankreich
und Deutschland, und für seine Nachfolger blieb dieser provinziale
Horizont die rechtgläubige Voraussetzung aller laklischen Erwä-
gungen. Aber die Welt war größer, und sie war mehr und etwas
anderes als ein Gebiet, das den Export des kleinen europäischen
Nordens stumm und widerstandslos aufnahm. Die weißen Arbeiter-
massen lebten nicht von der Industrie überhaupt, sondern vom In-
dustriemonopol der nordischen Großmächte. Nur auf Grund
dieser Tatsache waren die politischen Löhne gezahlt worden, ohne
sofort zur Katastrophe zu führen. Jetzt aber erhob sich über
dem Klassenkampf zwischen Arbeiterschaft und Gesellschaft in-
nerhalb der weißen Völker ein Rassenkampf von ganz anderem
Ausmaß, den kein Arbeiterführer geahnt hatte und den auch
heute keiner in seiner schicksalsschweren Unerbittlichkeit begreift
und zu begreifen wagt. Die Konkurrenz der weißen Arbeiter unter-
einander hatte man durch Gewerkschaftsorganisation und Tarif-
löhne beseitigt. Der seit i84o herangewachsene Unterschied zwi-
schen der Lebenshaltung des Industriearbeiters und des Bauern war
dadurch unschädlich gemacht worden, daß die wirtschaftspolitischen
Entscheidungen — Zölle, Steuern, Gesetze — von der Arbeiterseite
aus und gegen die Landwirtschaft gefällt wurden. Hier aber trat
die Lebenshaltung der Farbigen in Konkurrenz mit den Lu-
xuslöhnen der weißen Arbeiterschaft.
Farbige Löhne sind eine Größe anderer Ordnung und anderer Her-
kunft als weiße. Sie wurden diktiert, nicht gefordert, und wurden
niedrig gehalten, wenn es sein mußte, mit Waffengewalt. Man
nannte das nicht Reaktion oder Entrechtung des Proletariats, son-
dern Kolonialpolitik, und wenigstens der englische Arbeiter, der im-
perialistisch zu denken gelernt hatte, war ganz damit einverstanden.
Marx suchte bei seiner Forderung des „vollen Ertrags wertes" als Ar-
beiterlohn eine Tatsache zu unterschlagen, die er bei größerer Ehr-
lichkeit hätte bemerken und in Rechnung stellen müssen: Im Ertrag
nordischer Industrien stecken die Kosten tropischer Rohstoffe —
Baumwolle, Gummi, Metalle — und in diesen die niedrigen Löhne
farbiger Arbeiter. Die Überbezahlung der weißen Arbeit be-
ruhte auch auf der Unterbezahlung der farbigen. 1
Was Sowjetrußland als Methode im Kampf gegen die „weiße" Wirt-
schaft proklamiert hat, um deren Lebensfähigkeit durch Unterbie-
tung zu zerstören: nämlich die eigene Arbeiterschaft nach Lebens-
haltung und Arbeitszeit wieder auf den Stand von i84o zu setzen,
wenn es sein mußte durch Hungertod oder — wie 1923 in Moskau
— durch Artillerie, das war ohne Zwang schon längst auf
der ganzen Erde in Entwicklung begriffen. Und es rich-
tete sich mit furchtbarer Wirkung weniger gegen den Rang
dieser Industrie als gegen dieExistenz der weißen Arbeiter-
schaft. Haben die Sowjets das nicht begriffen, infolge ihrer dok-
trinären Verblendung, oder war das schon der Vernichtungswille
des erwachenden asiatischen Rassebewußtseins, das die Völker der
abendländischen Kultur vertilgen will?
In südafrikanischen Minen arbeiten Weiße und Kaffern nebeneinan-
der, der Weiße 8 Stunden mit einem Stundenlohn von 2 Schilling,
der Kaffer 12 Stunden bei 1 Schilling Tagelohn. Dies groteske Ver-
hältnis wird durch die weißen Gewerkschaften aufrechterhalten,
1 Ebenso wird die Kaufkraft
der mit farbigen Löhnen
122 DIE WEISSE W ELT REVO Lü Tl 0 N
welche die Organisationsversuche der Farbigen verbieten und es durch
politischen Druck auf die Parteien verhindern, daß die weißen Arbeiter
samt und sonders hinausgeworfen werden, obwohl das in der Natur
der Dinge läge. Aber das ist nur ein Beispiel des allgemeinen Ver-
hältnisses zwischen weißer und farbiger Arbeit in der ganzen Welt.
Die japanische Industrie schlägt mit ihren billigen Löhnen überall
in Süd- und Ostasien die weiße Konkurrenz aus dem Felde und
meldet sich schon auf dem europäischen und amerikanischen Markt. 1
Indische Webwaren erscheinen in London. Und inzwischen geschieht
etwas Furchtbares. Noch um 1880 gab es nur in Nordeuropa und
Nordamerika Kohlenlager, die ausgebeutet wurden. Jetzt sind sie in
allen Erdteilen bekannt und erschlossen. Das Monopol der weißen
Arbeiterschaft auf Kohle ist zu Ende. Darüber hinaus aber hat sich
die Industrie Yon der Bindung an die Kohle weitgehend befreit, durch
Wasserkraft, Erdöl und elektrische Kraftübertragung. Sie kann
wandern und sie tut es, und zwar überall fort aus dem Be-
reich der weißen Gewerkschaftsdiktaturen zu Ländern mit
niedrigen Löhnen. Die Zerstreuung der abendländischen Indu-
strie ist seit 1900 in vollem Gang. Die Spinnereien Indiens sind als
Filialen der englischen Fabriken gegründet worden, um „dem Ver-
braucher näher zu sein". So war es ursprünglich gemeint, aber die
Luxuslöhne Westeuropas haben eine ganz andere Wirkung hervor-
gebracht. In den Vereinigten Staaten wandert die Industrie mehr
und mehr von Chikago und Newyork nach den Negergebieten im
Süden und wird auch an der Grenze Mexikos nicht haltmachen. Es
gibt wachsende Industriegebiete in China, Java, Südafrika, Süd-
amerika. Die Flucht der hochentwickelten Verfahren zu den Far-
bigen schreitet fort und die weißen Luxuslöhne beginnen Theorie
zu werden, da die dafür angebotene Arbeit nicht mehr gebraucht
- -1
17
Schon um 1900 war die Gefahr ungeheuer. Der Bau der „weißen"
Wirtschaft war bereits untergraben. Er drohte unter dem Druck der
1 Die 60-Stunden -Woche wird in der japanischen Textilindustrie mit 7 Mark bezahlt, die
48-Stunden-Woche in Lancashire mit 35 Mark (Anfang xg33).
politischen Löhne, des Sinkens der persönlichen Arbeitsdauer, der
Sättigung aller fremden Absatzmärkte, des Entstehens fremder, von
den weißen Arbeiterparteien unabhängiger Industriegebiete bei der
ersten weltgeschichtlichen Erschütterung einzustürzen. Nur der un-
wahrscheinliche Friede seit 1870, den die Angst der Staatsmänner vor
nicht absehbaren Entscheidungen über die „weiße" Welt gebreitet
hatte, 1 hielt die allgemeine Täuschung über die unheimlich schnell
näherrückende Katastrophe aufrecht. Die düsteren Vorzeichen wur-
den nicht bemerkt und nicht beachtet. Ein verhängnisvoller, flacher,
Fortschritt, der sich in Ziffern aussprach — beherrschte Arbeiter-
führer und Wirtschaf tsführer, um von Politikern ganz zu schweigen,
unterstützt von der krankhaften Aufblähung des fiktiven Finanzkapi-
tals, das alle Welt für wirklichen Besitz, wirkliche, unzerstörbare
Geldwerte hielt. Aber schon um 19 10 erhoben sich einzelne Stim-
men, die daran erinnerten, daß die Welt im Begriff sei, mit Erzeug-
nissen der Industrie einschließlich der industrialisierten Großland-
wirtschaft übersättigt zu werden. Es wurde hier und da die Verstän-
digung zwischen den Mächten über eine freiwillige Kontingentie-
rung der Produktion vorgeschlagen. Aber das verhallte in den Wind.
Niemand glaubte an ernsthafte Gefahren. Niemand wollte daran glau-
ben. Es war außerdem falsch begründet, von einseitigen Wirtschaf ts-
betrachtern nämlich, die nur die Wirtschaft wie eine unabhängige
Größe sahen und nicht die viel mächtigere Politik der schleichen-
den Weitrevolution, die sie in falsche Formen und Richtungen
drängt hatte. Die Ursachen liegen tiefer, als daß sie durch
denken über Fragen der Konjunktur auch nur berührt worden wären.
Und es war bereits zu spät. Noch eine kurze Frist der Selbsttäu-
schung war gegeben; Die Vorbereitung des Weltkrieges, die zahl-
lose Hände in Anspruch nahm oder wenigstens der Produktion ent-
zog, Soldaten der stehenden Heere und Arbeiter für die
des Kriegsbedarfs.
Dann kam der große Krieg, und mit ihm, nichtvon
sondern nur nicht länger aufgehalten, der wirtschaftliche Zu-
sammenbruch der weißen Welt. Er wäre auch so gekommen, nur
")1E WEISSE
wurde von England, der Heimat des praktischen Arbeitersozialis-
mus, von Anfang an geführt, um Deutschland, die jüngste Groß-
macht, die sich am schnellsten und in überlegenen Formen entwik-
kelnde Wirtschaftseinheit, wirtschaftlich zu vernichten und für im-
mer von der Konkurrenz des Weltmarktes auszuschließen. Je mehr
im Chaos der Ereignisse das staatsmännische Denken verschwand
und nur militärische und grob wirtschaftliche Tendenzen das Feld
beherrschten, desto deutlicher trat überall die düstere Hoffnung zu-
tage, durch den Ruin Deutschlands, dann Rußlands, dann der ein-
und Finanz«
lung, und damit den eigenen Arbeiter zu retten. Aber das war gar
nicht mehr der eigentliche Beginn der folgenden Katastrophe. Sie ent-
wickelte sich vielmehr aus der Tatsache, daß seit 1 916 in allen weißen
Ländern, ob sie sich am Kriege beteiligten oder nicht, die Diktatur
der Arbeiterschaft gegenüber der Staatsleitung sich durch-
setzte, offen oder heimlich, in sehr verschiedenen Formen und Gra-
den, aber mit derselben revolutionären Tendenz. Sie stürzte oder be-
herrschte alle Regierungen. Sie wühlte in allen Heeren und Flotten.
Sie wurde — mit Recht — mehr gefürchtet als der Krieg selbst.
Und sie trieb nach seinem Abschluß die Löhne für die niedere
Massenarbeit zu einer grotesken Höhe hinauf und setzte gleichzeitig
den Achtstundentag durch. Als die Arbeiter aus dem Krieg nach
Menschenverluste die bekannte Wohnungsnot, weil das siegreiche
Proletariat jetzt nach Art der Bourgeoisie wohnen wollte und das
durchgesetzt hat. Er war das klägliche Symbol des Sturzes aller alten
Mächte des Standes und Ranges. Von dieser Seite her wurde die all-
gemeine Inflation der Staatsfinanzen und Wirtschaftskredite zuerst als
das begriffen, was sie war : eine der wirksamsten Formen des Bolsche-
wismus, durch welche die f ührenden Schichten der Gesellschaft ent-
eignet, ruiniert, proletarisiert und infolge davon aus der leitenden Poli-
tik ausgeschaltet wurden. Seitdem beherrscht das niedrige, kurze Den-
ken des gemeinen Mannes, der plötzlich mächtig geworden ist, die Welt.
Das — war der Sieg! Die Vernichtung ist vollzogen, die Zukunft ist
beinahe hoffnungslos, aber die Rache an der Gesellschaft ist be-
DIE WEISSE WELT REVOLUTION 125
dem gemeinen Denken, den Neidischen, den Träumern, den Schwär-
mern, die für die großen und kalten Tatsachen der Wirklichkeit
blind gewesen sind.
Dreißig Millionen weiße Arbeiter sind heute ohne Arbeit, trotz
der großen Kriegsverluste, und abgesehen von weiteren Millionen,
die nur teilweise beschäftigt sind. Das ist nicht die Folge des Krie-
ges, denn die Hälfte von ihnen lebt in Ländern, die kaum oder gar
nicht am Kriege beteiligt waren, nicht die Folge von Kriegsschul-
den oder verunglückten Währungsmanövern, wie die andern Län-
der zeigen. Die Arbeitslosigkeit steht überall genau im Ver-
hältnis zur Höhe der politischen Tariflöhne. Sie trifft die
einzelnen Länder genau im Verhältnis zur Zahl der weißen Indu-
striearbeiter. In den Vereinigten Staaten sind es zuerst die Anglo-
amerikaner, dann die eingewanderten Ost- und Südeuropäer, bei
weitem zuletzt die Neger, deren Arbeit man nicht mehr braucht.
Ebenso steht es in Lateinamerika und Südafrika. In Frankreich ist
die Zahl vor allem deshalb kleiner, weil die sozialistischen Abgeord-
neten den Unterschied von Theorie und Praxis kennen und sich so
schnell als möglich der regierenden Hochfinanz verkaufen, statt
für ihre Wähler Löhne zu erpressen. Aber in Rußland, Japan, China,
Indien gibt es keinen Mangel an Arbeit, weil es keine Luxuslöhne
gibt. Die Industrie flüchtet sich zu den Farbigen, und in den weißen
Ländern machen sich nur noch die Handarbeit sparenden Er-
findungen und Methoden bezahlt, weil sie den Druck der Löhne
mindern. Seit Jahrzehnten war die Steigerung der Produktion
bei der gleichen Arbeiterzahl durch technische Verfeinerung das
letzte Mittel gewesen, diesen Druck zu ertragen. Jetzt ertrug man
ihn nicht mehr, weil der Absatz fehlte. Einst waren die Löhne
von Birmingham, Essen und Pittsburg das Weltmaß; heute sind
es die farbigen von Java, Rhodesia und Peru. Und dazu kommt
die Einebnung der vornehmen Gesellschaft der weißen Völker
mit ihrem ererbten Reichtum, ihrem langsam herangebildeten
Geschmack, ihrem als Vorbild wirkenden Bedürfnis nach ech-
tem Luxus. Der Bolschewismus der vom Neid diktierten Erbschafts-
und Einkommensteuern — in England begann er schon vor dem
n in
m
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
verwandelten, haben gründliche Arbeit geleistet. Aber dieser echte
Luxus hatte die Qualitätsarbeit geschaffen und erhalten und
ganze Qualitätsindustrien wachsen lassen und genährt. Er
hatte die mittleren Schichten verführt und erzogen, selbst feinere
Ansprüche zu stellen. Je größer dieser Luxus, desto blühender die
nationalökonomischen Theorien abgab und deshalb das Wirtschaf ts-
leben besser verstand: Von seinem Hofe aus belebte sich die von
den Jakobinern zerstörte Wirtschaft wieder, weil sich wieder eine
höhere Gesellschaft bildete, nach englischem Vorbild freilich, weil die
des ancien regime ausgemordet, ruiniert, in ihren Resten stumpf und
Reichtum durch Pöbeleingriffe vernichtet, wenn er verdächtig, ge-
ächtet und den Besitzern gefährlich wird, hört der nordische Wille
zum Erwerb von Besitz, zur Macht durch Besitz auf, welchen zu
schaffen. Der wirtschaftliche — seelische — Ehrgeiz stirbt ab. Der
Wettkampf lohnt sich nicht mehr. Man sitzt im Winkel, verzichtet und
spart — und am „Sparen", das immer ein Sparen der Arbeit an-
derer ist, geht jede hochentwickelte Wirtschaft notwendig zugrunde.
Das alles wirkt zusammen. Die niedere weiße Lohnarbeit ist wert-
los, die Arbeitermasse auf der nordischen Kohle ist überflüssig ge-
worden. Es war die erste große Niederlage der weißen Völker gegen-
über der farbigen Völkermasse der ganzen Welt, zu der die Russen,
die Südspanier und Süditaliener, die Völker des Islam ebenso ge-
Amerika. Es war das erste drohende Zeichen dafür, daß die weiße
Weltherrschaft vor der Möglichkeit steht, infolge des Klassenkamp-
fes in ihrem Rücken der farbigen Macht zu erliegen.
Und trotzdem wagt es niemand, die wirklichen Gründe und Ab-
gründe dieser Katastrophe zu sehen. Die weiße Welt wird vor-
wiegend von Dummköpfen regiert — wenn sie regiert wird, woran
man zweifeln darf. Um das Krankenbett der weißen Wirtschaft
stehen lächerliche Autoritäten, die nicht über das nächste Jahr hin-
aussehen und die sich aus längst veralteten, „kapitalistischen" und
„sozialistischen", eng wirtschaftlichen Ansichten heraus um kleine
Mittel streiten. Und endlich: Feigheit macht blind. Niemand redet
von den Folgen dieser mehr als hundertjährigen Weltrevolution, die
aus den Tiefen der weißen Großstädte heraus das Wirtschaftsleben
und nicht nur dieses zerstört hat; niemand sieht sie; niemand wagt
es, sie zu sehen.
„Der Arbeiter" ist nach wie vor der Götze aller Welt, und der
„Arbeiterführer" ist jeder Kritik hinsichtlich der Tendenz seines
Vorhandenseins enthoben. Man mag noch so lärmend gegen den
Marxismus wettern, aus jedem Wort spricht der Marxismus selbst.
Seine lautesten Feinde sind von ihm besessen und merken es nicht.
Und fast jeder von uns ist in irgendeinem Winkel seines Herzens
„Sozialist" oder,, Kommunist". 1 Daher die allgemeine Abneigung,
die Tatsache des herrschenden Klassenkampfes zuzugeben und die
Folgerungen daraus zu ziehen. Statt die Ursachen der Katastrophe
rücksichtslos zu bekämpfen, soweit das überhaupt noch möglich
ist, sucht man die Folgen, die Symptome zu beseitigen, und nicht
einmal zu beseitigen, sondern zu übertünchen, zu verstecken, zu
leugnen. Da ist, statt die Betrachtung bei der revolutionären Lohn-
höhe zu beginnen, die Vierzigstundenwoche die neue revolutio-
näre Forderung, ein weiterer Schritt auf marxistischem Wege, eine
weitere Kürzung der Leistungen der weißen Arbeiterschaft bei
gleichbleibendem Einkommen, also eine weitere Verteuerung der
weißen Arbeit, denn daß die politischen Löhne nicht fallen dürfen,
wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Niemand wagt es, den Ar-
beitermassen zu sagen, daß ihr Sieg ihre schwerste Niederlage war,
daß Arbeiterführer und Arbeiterparteien sie dahin gebracht haben,
um ihren eigenen Hunger nach Volkstümlichkeit, nach Macht und
nach einträglichen Posten zu stillen, und daß sie noch lange nicht
daran denken, ihre Opfer aus der Hand zu lassen und selbst zu ver-
lange, bis an die Grenze ihrer Arbeitskraft, in Rußland unter der
Knute, anderswo aber schon mit dem stillen Bewußtsein der Macht,
die sie damit über die verhaßten Weißen, die Herren von heute —
oder von gestern? — in der Hand haben.
Da ist das Schlagwort der „Abschaffung" der Arbeitslosigkeit, der
„Arbeitsbeschaffung" — von überflüssiger und zweckloser Arbeit
nämlich, da es notwendige, ertragreiche und zweckvolle unter diesen
Bedingungen nicht mehr gibt — , und niemand sagt sich, daß die
i S. 58.
12
Kosten dieser Produktion ohne Absatz, dieser Potemkinschen Dörfer
in einer Wirtschaftswüste, wieder durch den Steuerbolschewismus
einschließlich der Herstellung fiktiver Zahlungsmittel von den
Resten des gesunden Bauerntums und der städtischen Gesellschaft
eingetrieben werden müssen. Da ist das Dumping durch planmäßi-
gen Währungsverfall, wodurch das einzelne Land den Absatz seiner
Produkte auf Kosten desjenigen der anderen zu retten sucht —
im Grunde eine falsche, billigere Verrechnung der wirklichen Löhne
und Herstellungskosten, durch die der Abnehmer betrogen wird und
wofür wieder der Rest des Besitzes der übrigen Nation durch Wert-
verminderung die Kosten trägt. Aber der Sturz des Pfundes, ein
gewaltiges Opfer für den englischen Stolz, hat die Zahl der Arbeits-
losen auch nicht um einen Mann vermindert. Es gibt nur eine Art
von Dumping, die im Wirtschaftsleben natürlich begründet und
deshalb erfolgreich ist, die durch billigere Löhne und die größere
Arbeitsleistung, und darauf stützt sich die zerstörende Tendenz des
russischen Exports und die tatsächliche Überlegenheit der „farbigen"
Produktionsgebiete wie Japan, mögen sie Industrie oder Landwirt-
schaft treiben und die weiße Produktion durch eigenen Export oder
durch Verhinderung des Imports infolge billigerer Selbstversorgung
vernichten.
Und endlich erscheint das letzte, verzweifelte Mittel der todkranken
Nationalwirtschaften : die Autarkie oder mit welchen großen Worten
man sonst dies Verhalten sterbender Tiere bezeichnet, die gegen-
seitige wirtschaftliche Abschließung auf politischem Wege durch
Kampfzölle, Einfuhrverbote, Boykott, Devisensperren und was man
sonst noch erfunden hat oder erfinden wird, um den Zustand be-
lagerter Festungen herzustellen, der schon fast einem wirklichen
Kriege entspricht und eines Tages die militärisch stärkeren Mächte
daran erinnern könnte, mit einem Hinweis auf Tanks und Bomben-
geschwader die Öffnung der Tore und die wirtschaftliche Kapitu-
lation zu verlangen. Denn, es muß immer wieder gesagt werden : Die
Wirtschaft ist kein Reich für sich; sie ist mit der großen Politik
unauflöslich verbunden ; sie ist ohne starke Außenpolitik nicht denk-
bar und damit letzten Endes abhängig von der militärischen Macht
des Landes, in dem sie lebt oder stirbt. 1
1 Polit. Schriften S. 32aff.
DIE WEISSE WELT REVOLUTION 129
Aber welchen Sinn hat die Verteidigung einer Festung, wenn der
Feind sich darin befindet, der Verrat in Gestalt des Klassen-
kampfes, der es zweifelhaft erscheinen läßt, wen und was man
eigentlich verteidigt. Hier liegen die wirklichen, schweren Probleme
der Zeit. Die großen Fragen sind dazu da, daß bedeutende Köpfe an
ihnen zerbrechen. Wenn man sieht, wie sie überall in der Welt auf
kleine Scheinprobleme herabgezogen, herabgelogen werden* damit
kleine Menschen sich mit kleinen Gedanken und kleinen Mitteln
wichtig tun können — wenn die „Schuld" an der Wirtschaftskata-
strophe beim Krieg und den Kriegsschulden, bei Inflation und Wäh-
rungsschwierigkeiten gesucht wird und „Wiederkehr der Prosperität"
und „Ende der Arbeitslosigkeit" Worte für den Abschluß einer un-
geheuren welthistorischen Epoche sind, Worte, deren man sich nicht
schämt, dann möchte man an der Zukunft verzweifeln. Wir leben
in einem der gewaltigsten Zeilalter aller Geschichte und niemand
sieht, niemand begreift das. Wir erleben einen Vulkanausbruch ohne-
gleichen. Es ist Nacht geworden, die Erde zittert und Lavaströme
wälzen sich über ganze Völker hin — und man ruft nach der Feuer-
wehr! Aber daran erkennt man den Pöbel, der Herr geworden ist,
im Unterschied von den seltenen Menschen, die „Rasse haben". Die
großen Einzelnen sind es, die Geschichte machen. Was „in Masse"
auftritt, kann nur ihr Objekt sein.
Diese Weltrevolution ist nicht zu Ende. Sie wird die Mitte, viel-
leicht das Ende dieses Jahrhunderts überdauern. Sie schreitet un-
aufhaltsam fort, ihren letzten Entscheidungen entgegen, mit der
geschichtlichen Unerbittlichkeit eines großen Schicksals, dem keine
Zivilisation der Vergangenheit ausweichen konnte und das alle
weißen Völker der Gegenwart seiner Notwendigkeit unterwirft. Wer
ihr Ende predigt oder sie besiegt zu haben glaubt, der hat sie gar
nicht verstanden. Ihre gewaltigsten Jahrzehnte brechen erst an. Jede
führende Persönlichkeit im Zeitalter der gracchischen Revolution,
Scipio so gut wie sein Gegner Haimibal, Sulla nicht weniger als
sehen Kriege, der Aufstand der italischen Bundesgenossen, Skla-
venrevolten von Sizilien bis Kleinasien sind nur Formen, in denen
diese tief innerliche Krise der Gesellschaft, das heißt des organischen
Baues der Kulturnationen, ihrer Vollendung entgegengeht. Es war im
Ägypten der Hyksoszcit, im China der „Kämpfenden Staaten" 1 und
überall sonst in den „gleichzeitigen" Abschnitten der Geschichte
ebenso, wie wenig wir auch davon wissen mögen. Hier sind wir
alle ohne Ausnahme Sklaven des „Willens" der Geschichte, mit-
wirkende, ausführende Organe eines organischen Geschehens:
Und wer sich vermißt, es klüglich zu wenden,
In diesem ungeheuren Zweikampf großer Tendenzen, der sich über
die weiße Welt hin in Kriegen, Umstürzen, starken Persönlich-
keiten voller Glück und Tragik, gewaltigen Schöpfungen von den-
sive von unten, von der städtischen Masse her, die Defensive von
oben, noch schwächlich und ohne das gute Gewissen ihrer Not-
wendigkeit. Das Ende wird erst sichtbar werden, wenn das Verhält-
nis sich umkehrt, und das steht nahe bevor.
Es gibt in solchen Zeiten zwei natürliche Parteien, zwei Fronten
des Klassenkampf es, zwei innerliche Mächte und Richtungen, mögen
sie sich nennen, wie sie wollen, und nur zwei, gleichviel in welcher
Zahl Parteiorganisationen vorhanden sind und ob sie da sind. Die
fortschreitende Bolschewisierung der Massen in den Vereinigten
Staaten beweist es, der russische Stil in ihrem Denken, Hoffen und
Wünschen. Das ist eine „Partei". 2 Noch gibt es kein Zentrum des
Widerstandes dagegen in diesem Lande, das kein Gestern und viel-
leicht kein Morgen hat. Die glänzende Episode der Dollarherrschaft
und ihrer sozialen Struktur, mit dem Sezessionskrieg 1860 begin-
nend, scheint vor dem Ende zu stehen. Wird Chikago das Moskau
der neuen Welt sein? In England hat die Oxford Union Society,
der größte Studentenklub der vornehmsten Universität des Landes,
mit erdrückender Mehrheit den Beschluß gefaßt: Dies Haus wird
unter keinen Umständen für König und Vaterland kämpfen. Das
1 Unt. d. Abendl. II, S. 5io, 5i8, 53i.
* S. 5o.
DIE WEISSE WELT REVOLÜT ION 131
bedeutet das Ende der Gesinnung, die alle Parteibildungen bis dahin
beherrscht hatte. Es ist nicht unmöglich, daß die angelsächsischen
Mächte im Begriff sind zu vergehen. Und das westeuropäische Fest-
land? Am freiesten von diesem weißen Bolschewismus ist — Ruß-
land, in dem es keine „Partei" mehr gibt, sondern unter diesem
Namen eine regierende Horde altasiatischer Art. Hier gibt es auch
Furcht vor dem Tode — durch Entziehung der Lebensmittelkarte,
des Passes, durch Verschickung in ein Arbeitslager, durch eine Kugel
oder den Strang.
Vergebens bemüht sich die Feigheit ganzer Schichten, für eine versöhn-
liche Mitte" gegen „rechts"- und ,.links"radikale Tendenzen einzu-
treten. Die Zeit selbst ist radikal. Sie duldetkeine Kompromisse. Die
Tatsache der bestehenden Ubermacht der Linken, der erwachende
Wille zu einer Rechtsbewegung, die einstweilen nur in engen Krei-
in einigen Heeren, unter anderm auch im englischen Oberhaus
Stützpunkt hat, lassen sich nicht aus der Welt schaffen oder
verleugnen. Deshalb ist die liberale Partei Englands verschwunden,
und wird ihre Erbin, die Labour Party, in der heutigen Gestalt ver-
schwinden. Deshalb verschwanden die Mittelparteien Deutschlands
ohne Widerstand. Der Wille zur Mitte ist der greisenhafte Wunsch
nach Ruhe um jeden Preis, nach Verschweizerung der Nationen,
nach geschichtlicher Abdankung, mit der man sich einbildet,
den Schlägen der Geschichte entronnen zu sein. Der Gegensatz zwi-
schen gesellschaftlicher Rangordnung und städtischer Masse, zwi-
sein weniger und der niederen, massenhaften Hanc
man es nennen will, ist da. Es gibt nichts Drittes.
Aber ebenso ist es ein Irrtum, an die Möglichkeit einer einzigen
Partei zu glauben. Parteien sind liberal-demokratische Formen der
Opposition. Sie setzen eine Gegenpartei voraus. Eine Partei ist
im Staate so unmöglich, wie ein Staat in einer staatenlosen Welt.
Die politische Grenze — des Landes oder der Gesinnung — trennt
immer zwei Mächte voneinander. Es ist die Kinderkrankheit aller
Revolutionen, an eine siegreiche Einheit zu glauben, während das
Problem der Zeit, aus dem sie selbst hervorgegangen sind, den Zwie-
spalt fordert. So werden die großen Krisen der Geschichte nicht
9*
132
DIE WEISSE W ELT REVOLü TION
gelöst. Sie wollen reifen, um in neue, in neue Kämpfe überzu-
gehen. Der „totale Staat", ein italienisches Schlagwort, das ein in-
ternationales Modewort geworden ist, war schon von den Jakobinern
verwirklicht — für die zwei Jahre des Terrors nämlich. Aber sobald
sie die verfallenen Mächte des ancien regime vernichtet und die
Diktatur begründet hatten, spalteten sie sich selbst in Girondisten
und Montagnards, und die ersten nahmen den verlassenen Platz
ein. Ihre Führer fielen der Linken zum Opfer, aber deren Nach-
folger machten es mit der Linken ebenso. Dann, mit dem Ther-
midor, begann das Warten auf den siegreichen General. Man kann
eine Partei als Organisation und Bürokratie von Gehaltsempfän-
gern zerstören, als Bewegung, als seelisch-geistige Macht aber nicht.
Der naturnotwendige Kampf wird damit in die übriggebliebene
Partei verlegt. Dort bilden sich neue Fronten, um ihn fortzusetzen.
Er läßt sich bestreiten und verdecken, aber er ist da.
Das gilt vom Faschismus und von jeder der zahlreichen nach seinem
Muster entstandenen oder noch, etwa in Amerika, entstehenden Be-
wegungen. Hier ist jeder Einzelne vor eine unvermeidliche Wahl ge-
stellt. Man muß wissen, ob man „rechts" oder „links" steht, mit
Entschiedenheit, sonst entscheidet der Gang der Geschichte dar-
über, der stärker ist als alle Theorie und ideologische Träu-
merei. Eine Versöhnung ist heute so unmöglich wie im Zeitalter der
Gracchen.
Der abendländische Bolschewismus ist nirgends tot — außer in
Rußland. Wenn man seine Kampf Organisationen vernichtet, lebt er
in neuen Formen weiter, als linker Flügel der Partei, die ihn be-
siegt zu haben glaubt, als Gesinnung, über deren Vorhandensein
im eigenen Denken einzelne und ganze Massen sich gründlich täu-
schen können, 1 als Bewegung, die eines Tages plötzlich in organi-
sierten Formen hervorbricht.
Was heißt denn „links"? Schlagworte des vorigen Jahrhunderts
wie Sozialismus, Marxismus, Kommunismus sind veraltet ; sie sagen
nichts mehr. Man gebraucht sie, um sich nicht Rechenschaft dar-
über ablegen zu müssen, wo man wirklich steht. Aber die Zeit ver-
langt Klarheit. „Links" ist, was Partei 2 ist, was an Parteien glaubt,
* S- 58.
2 Unt. d. Abendl. II, S. 5ü7ff.
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
133
denn das ist eine liberale Form des Kampfes gegen die höhere Ge-
sellschaft, des Klassenkampfes seit 1770, der Sehnsucht nach Mehr-
heiten, nach dem Mitlaufen „aller", Quantität statt Qualität, die
Herde statt des Herrn. Aber der echte Cäsarismus aller endenden
Kulturen stützt sich auf kleine starke Minderheiten. Links ist, was
ein Programm hat, denn das ist der intellektuelle, rationalistisch-
romantische Glaube, die Wirklichkeit durch Abstraktionen bezwin-
gen zu können. Links ist die lärmende Agitation auf dem Straßen-
lungen, 1 die Kunst, die städtische Masse
te Worte und mittelmäßige Gründe umzuwerfen : In der
Gracchenzeit hat sich die lateinische Prosa zu jenem rhetorischen
Stil entwickelt, der zu nichts taugt als zu spitzfindiger Rhetorik und
den wir bei Cicero finden. Links ist die Schwärmerei für Massen
überhaupt als Grundlage der eigenen Macht, der Wille, das Ausge-
zeichnete einzuebnen, den Handarbeiter mit dem Volk gleichzusetzen
Eine Partei ist nicht nur eine veraltende Form, sie ruht auch auf
der schon veralteten Massenideologie, sie sieht die Dinge von unten,
sie läuft dem Denken der Meisten nach. „Links* ' ist zuletzt und vor
allem der Mangel an Achtung vor dem Eigentum, obwohl keine
Rasse einen so starken Instinkt für Besitz hat wie die germanische,
Der Wille zum Eigentum ist der nordische Sinn
des Lebens. Er beherrscht und gestaltet unsere gesamte Geschichte
von den Eroberungszügen halbmythischer Könige bis in die Form
der Familie der Gegenwart hinein, die stirbt, wenn die Idee des Eigen-
tums erlischt. Wer den Instinkt dafür nicht hat, der ist nicht „von
Rasse".
Das ist die große Gefahr der Mitte dieses Jahrhunderts, daß man fort-
setzt, was man bekämpfen möchte. Es ist das Zeitalter der Zwischen-
lösungen und Übergänge. Aber solange das möglich ist, ist die Revo-
lution nicht zu Ende. Der Cäsarismus der Zukunft wird nicht über-
reden, sondern mit der Waffe siegen. Erst wenn das selbstverständlich
geworden ist, wenn man die Mehrheit als Einwand empfindet, sie
verachtet, wenn je
Programme und Ide üo^ien u
1 S. 63.
134
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
wunden. Auch im Faschismus besteht die gracchische Tatsache
zweier Fronten — die linke der unteren städtischen Masse und die
rechte der gegliederten Nation vom Bauern bis zu den führenden
Schichten der Gesellschaft — , aber sie ist durch die napoleonische
Energie eines Einzelnen unterdrückt. Aufgehoben ist der Gegen-
satz nicht und kann es nicht sein, 1 und er wird in schweren Dia-
dochenkämpfen in dem Augenblick wieder zutage treten, wo diese
eiserne Hand das Steuer verläßt. Auch der Faschismus ist ein Ober-
gang. Er hat sich von der städtischen Masse her entwickelt, als
Massen partei mit lärmender Agitation und Massenreden. Tenden-
zen des Arbeitersozialismus sind ihm nicht fremd. Aber solange
eine Diktatur „sozialen" Ehrgeiz hat, um des „Arbeiters" willen da
zu sein behauptet, auf den Gassen wirbt und populär ist, so lange ist
sie Zwischenform. Der Cäsarismus der Zukunft kämpft nur um
Macht, für ein Reich und gegen jede Art von Partei.
Jede ideologische Bewegung glaubt an das Endgültige ihrer Lei-
stungen. Sie lehnt den Gedanken ab, daß „nach ihr" die Geschichte
weitergehe. Noch fehlt ihr die cäsarische Skepsis und Menschenverach-
tung, das tiefe Wissen um die Flüchtigkeit aller Erscheinungen. Der
schöpferische Gedanke Mussolinis war groß, und er hat eine inter-
nationale Wirkung gehabt : Man sah eine mögliche Form, denBolsche-
wismus zu bekämpfen. Aber diese Form ist in der Nachahmung
des Feindes entstanden und deshab voller Gefahren: Die Revolu-
tion von unten, zum guten Teil von Untermenschen gemacht und
mitgemacht, die bewaffnete Parteimiliz — im Rom Casars durch
die Banden von Clodius undMilo vertreten — , die Neigung, die gei-
stige und wirtschaftliche Führerarbeit der ausführenden Arbeit
unterzuordnen, weil man sie nicht versteht, das Eigentum der an-
deren gering zu achten, Nation und Masse zu verwechseln, mit
einem Wort : die sozialistische Ideologie des vorigen Jahrhunderts.
Das alles gehört zur Vergangenheit. Was die Zi
Pa
1 Abgesehen davon, daß in einem südlichen Lande mit halbtropischem Lebensstil und
entsprechender „Basse", und außerdem mit schwacher Industrie, also unentwickeltem
Proletariat, die nordische Schärfe des Gegensatzes nicht vorhanden ist. In
etwa hätte diese Art von Faschismus nicht entstehen und sich nicht
DIE WEISSE W ELT REVO LTJ T ION
135
Parteiführer, obwohl er Arbeiterführer war, sondern der Herr seines
Landes. Wahrscheinlich wäre sein Vorbild Lenin das auch gewor-
den, wenn er länger gelebt hätte. Die überlegene Rücksichtslosig-
keit seiner Partei gegenüber und den Mut, den Rückzug aus aller
Ideologie anzutreten, besaß er, Mussolini ist vor allem Staatsmann,
eiskalt und skeptisch, Realist, Diplomat. Er regiert wirklich allein.
Er sieht alles — die seltenste Fälligkeit bei einem absoluten Herr-
scher. Selbst Napoleon wurde von seiner Umgebung isoliert. Die
schwersten Siege und die notwendigsten, die ein Herrscher er-
ficht, sind nicht die über Feinde, sondern über die eigene Anhänger-
schaft, die Prätorianer, die „Ras", wie sie in Italien hießen. Damit be-
weist sich der geborene Herr. Wer das nicht weiß und kann und wagt,
schwimmt wie ein Flaschenkork auf der Welle, oben und doch ohne
Macht. Der vollendete Cäsarismus ist Diktatur, aber nicht die Dik-
tatur einer Partei, sondern die eines Mannes gegen alle Parteien,
vor allem die eigene. Jede revolutionäre Bewegung kommt mit einer
Avantgarde von Prätorianern zum Sieg, die dann nicht mehr brauch-
bar und nur noch gefährlich sind. Der wirkliche Herr zeigt sich in
der Art, wie er sie verabschiedet, rücksichtslos, undankbar, nur auf
sein Ziel blickend, für das er die richtigen Männer erst zu finden hat
und zu finden weiß. Das Gegenteil zeigt die französische Revolution
am Anfang : Niemand hat die Macht, alle wollen sie haben. Jeder be-
fiehlt, und niemand gehorcht.
Mussolini ist ein Herrenmensch wie die Kondottieri der Renais-
sance, der die südliche Schlauheit der Rasse in sich hat und deshalb
das Theater seiner Bewegung vollkommen richtig für den Charakter
Italiens — die Heimat der Oper — berechnet, ohne je selbst da-
von berauscht zu sein, wovon Napoleon nicht ganz frei war und
woran zum Beispiel Rienzi zugrunde ging. Wenn Mussolini sich auf
das preußische Vorbild beruft, so hatte er recht : er ist Friedrich dem
Großen näher verwandt, selbst dessen Vater, als Napoleon, um von
geringeren Beispielen zu schweigen.
Hier muß endlich das entscheidende Wort über „Preußentum" und
„Sozialismus" gesagt werden. Ich hatte 191g beide verglichen, eine
lebendige Idee und das herrschende Schlagwort eines vollen Jahr-
hunderts, 1 und bin — ich möchte sagen : selbstverständlich — nicht
* Polit. Schriften S. iff.
136 DIE WEISSE W E L T REVO LU T I O N
verstanden worden. Man versteht heute nicht mehr zu lesen. Diese
große Kunst noch der Goethezeit ist ausgestorben . Man überfliegt
Gedrucktes „in Masse", und in der Regel demoralisiert der Leser
das Buch. Ich hatte gezeigt, daß in der von Bebel zu einer gewaltigen
Armee geschmiedeten Arbeiterschaft, ihrer Disziplin und Gefolgs-
treue, ihrer Kameradschaft, ihrer Bereitschaft zu den äußersten
Opfern jener altpreußische Stil fortlebte, der sich zuerst in den
Schlachten des Siebenjährigen Krieges bewiesen hatte. Auf den ein-
zelnen „Sozialisten" als Charakter, auf seine sittlichen Imperative
kam es an, nicht auf den in seinen Kopf gehämmerten Sozialismus,
dies nichts weniger als preußische Gemisch von dummer Ideologie
und gemeiner Begehrlichkeit. Und ich zeigte, daß dieser Typus des
In-Form-Seins für eine Aufgabe seine Tradition bis zum
Deutschritterorden zurückführt, der in gotischen Jahrhunderten —
wie heute wieder — die Grenzwacht der faustischen Kultur gegen
Asien hielt. Diese ethische Haltung, unbewußt wie jeder echte Le-
bensstil und deshalb nur durch lebendiges Vorbild, nicht durch
Reden und Schreiben zu wecken und heranzubilden, trat im August
191/4 prachtvoll hervor — das Heer hatte Deutschland erzogen —
und wurde 1918 von den Parteien verraten, als der Staat erlosch.
Seitdem richtete sich das disziplinierte Wollen in der nationalen
Bewegung wieder auf, nicht in ihren Programmen und Parteien,
sondern in der sittlichen Haltung der besten Einzelnen, 1 und es
ist möglich, daß von dieser Grundlage aus das deutsche Volk für die
Aufgaben seiner schweren Zukunft langsam und beharrlich erzogen
und es ist notwendig, wenn wir nicht in den kommenden
ipf en zugrunde gehen sollen.
Aber die Flachköpfe kommen nicht aus dem marxistischen Denken
des vorigen Jahrhunderts heraus. Sie verstehen überall in der Welt
den Sozialismus nicht als sittliche Lebensform, sondern als Wirt-
schaftssozialismus, als Arbeitersozialismus, als Massenideologie
mit materialistischen Zielen. Der Programmsozialismus
Denken von unten, auf gemeinen Instinkten ruhend,
Herdengefühls, das sich heute allenthalben hinter dem Schlagwort
„Überwindung des Individualismus'* versteckt, und das Gegenteil
1 Ich habe diese Haltung in den „Politischen Pflichten der deutschen Jugend" 1924 zu
ve
DIE WEISSj
von preußischem Empfinden, das an vorbildlichen Führern die Not-
wendigkeit einer disziplinierten Hingabe erlebt hat und damit die
innere Freiheit der Pflichterfüllung besitzt, das Sich-selbst-
befehlen, Sich-seibst-beherrschen im Hinblick auf ein großes
Ziel.
Der Arbeitersozialismus in jeder Form dagegen ist — ich habe das
schon gezeigt 1 — durchaus englischer Herkunft und zugleich mit
der Herrschaft der Aktie als der siegreichen Form des heimatlosen
Finanzkapitals um i84o entstanden. 2 Beides ist Ausdruck des frei-
Kapitalismus von unten, Lohnkapitalismus, wie das speku-
lierende Finanzkapital seiner Methode nach Sozialismus von
Wurzel, dem Denken in Geld, 3 dem Handel mit Geld
Pflaster der Weltstädte — ob als Lohnhöhe oder Kursgewir
anfrage. Zwischen wirtschaftlichem Liberalismus und So-
lus besteht kein Gegensatz. Der Arbeitsmarkt ist die Börse des
organisierten Proletariats. Die Gewerkschaften sind Trusts für Lohn-
erpressung von derselben Tendenz und Methode wie die Öl-, Stahl-
und Banktrusts nach angloamerikanischem Muster, deren Finanz-
sozialismus die persönlich und fachmännisch geleiteten Einzelunter-
nehmen durchdringt, unterwirft, aussaugt und bis zur planwirtschaft-
lichen Enteignung beherrscht. Die verheerende, ent eignen deEigen-
schaft der Aktienpakete und Beteiligungen, die Trennung des bloßen
„Habens" von der verantwortlichen Führerarbeit des Unternehmers,
der gar nicht mehr weiß, wem eigentlich sein Werk gehört, ist noch
lange nicht genug beachtet worden. Die produktive Wirtschaft ist zu-
letzt nichts als das willenlose Objekt für Börsenmanöver. Erst mit
der Herrschaft der Aktie hat die Börse, bis dahin ein bloßes Hilfs-
mittel der Wirtschaft, die Entscheidung über das Wirtschaftsleben
an sich genommen. Diese Finanzsozialisten und Trustmagnaten wie
Morgan und Kreuger entsprechen durchaus den Masseführern der
* S. 77 ff. Poiit. Schriften S. 70 ff.
» Pohl. Schriften S. i3aff. 269.
s Ünt. d. Abendl. II, S. 566.
acchenzeit, die konservativen
igentums, der Bauer wie der
Seiten her werden, heute wie
Mächte des Staates, des Heere
Unternehmer bekämpft.
Aber der preußische Stil fordert nicht nur den Vorrang der großen
Politik vor der Wirtschaft, deren Disziplinierung durch einen
starken Staat, was die freie Initiative des privaten Unternehmer-
geistes voraussetzt und nichts weniger ist als parteimäßige, pro-
grammatische Organisation und Überorganisation bis zur Aufhebung
der Idee des Eigentums, welche gerade unter germanischen Völ-
kern Freiheit des wirtschaftlichen Willens und Herrschaft über
das Eigene bedeutet. 1 „Disziplinierung" ist die Schulung eines Rasse-
pferdes durch einen erfahrenen Reiter und nicht die Pressung des le-
bendigen Wirtschaftskörpers in ein planwirtschaftliches Korsett oder
seine Verwandlung in eine taktmäßig klappernde Maschine. Preußisch
ist die aristokratische Ordnung des Lebens nach dem Rang der Lei-
stung. Preußisch ist vor allem der unbedingte Vorrang der Außen-
politik, der erfolgreichen Leitung des Staates in einer Weltvon Staaten,
über die Politik im Innern, die lediglich die Nation für diese Aufgabe
in Form zu halten hat und zum Unfug und zum Verbrechen wird,
wenn sie unabhängig davon eigene, ideologische Zwecke verfolgt.
Hierin liegt die Schwäche der meisten Revolutionen, deren Führer
durch Demagogie emporgekommen sind, nichts anderes gelernt ha-
ben und deshalb den Weg vom parteimäßigen zum staatsmännischen
Denken nicht zu finden wissen — wie Danton und Robespierre.
Mirabeau und Lenin starben zu früh, Mussolini ist es geglückt. Aber
die Zukunft gehört den großen Tatsachenmenschen, nachdem seit
Rousseau Weltverbesserer sich auf der Bühne der Weltgeschichte
gespreizt haben und ohne bleibende Spur verschwunden sind.
Preußisch ist endlich ein Charakter, der sich selbst diszipliniert, wie
an Friedrich der Große besaß und in dem Wort vom
dienter, aber wenn Bebel meinte,
dientenseele besitze, so hatte er für die
Partei bewies es 191 8. Die Lakaien des Ei
sie zu
Volk eine Be-
recht. Seine eigene
5 sind bei uns zahl-
und in allen
1 Das altgermanische Wort eigan bedeutet herrschen: nicht nur etwas „haben", son-
dern unumschränkt darüber verfügen.
kern die menschliche Herde gefüllt haben. Es ist gleichgültig, ob
der Byzantinismus seine Orgien vor dem Geldsack, dem politi-
schen Glück, einem Titel oder nur vor Geßlers Hut vollzieht. Als
Karl II. in England landete, gab es plötzlich keine Republikaner
mehr. Diener des Staates sein ist eine aristokratische Tugend,
deren nur wenige fähig sind. Wenn das ..sozialistisch" ist, so
ist es ein stolzer und exklusiver Sozialismus für Menschen von
Rasse, für die Auserwählten des Lebens. Preußentum ist etwas sehr
Vornehmes und gegen jede Art von Mehrheit und Pöbelherrschaft
Moltke, der große Erzieher des deutschen Off iziers, das größte Bei-
spiel für echtes Preußentum im 19. Jahrhundert, war so. Graf
Schlieffen hat seine Persönlichkeit in dem Wahlspruch zusammen-
gefaßt: Wenig reden, viel leisten, mehr sein als scheinen.
Von dieser Idee des preußischen Daseins wird die endliche Über-
windung der Weltrevolution ausgehen. Es gibt keine andere Möglich-
keit. Ich hatte schon 19 19 gesagt: Nicht jeder ist Preuße, der in
Preußen geboren ist; dieser Typus ist überall in der weißen Welt
möglich, und wirklich, wenn auch noch so selten, vorhanden. Er
liegt der vorläufigen Form der nationalen Bewegungen — sie
sind nichts Endgültiges — überall zugrunde, und es fragt sich, in
welchem Grade es gelingt, ihn von den rasch veraltenden, popu-
lären, parteimäßig-demokratischen Elementen des liberalen und so-
zialistischen Nationalismus zu lösen, die ihn einstweilen beherr-
schen. Das schweigende Nationalgefühl der Engländer um 1900,
das heute unsicher geworden ist, der prahlerisch gehaltlose Chau-
vinismus der Franzosen, der in der Dreyfusaffäre lärmend zutage
trat, gehörten dazu, dort am Kultus der Flotte, hier an dem der
Armee hängend. Amerika besitzt dergleichen nicht — der hundert-
prozentige Amerikanismus ist eine Phrase — und es braucht ihn,
wenn es die kommende Katastrophe zwischen dem lauernden Kom-
munismus und der schon untergrabenen Hochfinanz als Nation über-
haupt überdauern soll. Die preußische Idee richtet sich gegen den
Finanzliberalismus wie gegen den Arbeitersozialismus. Jede Art von
allem richtet sie sich gegen die Schwächung des Staates und seinen
herabwürdigenden Mißbrauch für Wirtschaf tsinteressen. Sieistkon-
140
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
servativ und „rechts* * und wächst aus den Urmächten des Lebens
hervor, soweit sie in nordischen Völkern noch vorhanden sind: Dem
Instinkt für Macht und Eigentum, für Eigentum als Macht, für
Erbe, 1 Fruchtbarkeit und Familie — denn das gehört zusammen —
für Rangunterschiede und gesellschaftliche Gliederung, deren Tod-
feind der Rationalismus von 1750 bis 1960 war oder ist. Der Na-
tionalismus der Gegenwart ist mit der in ihm verborgen liegenden
monarchischen Gesinnung ein Übergang. Er ist eine Vorstufe des kom-
menden Cäsarismus, mag der auch in noch so weiter Ferne zu liegen
scheinen. Hier regt sich der Ekel an allem liberalen und sozialistischen
Parteiwesen, an jeder Art von Volkstümlichkeit, die stets ihr Ob-
jekt kompromittiert, an allem, was in Masse auftritt und mitreden
will. Dieser Zug, mag er noch so tief unter „zeitgemäßeren" Ten-
denzen verborgen sein, hat die Zukunft für sich — und die Führer
der Zukunft. Alle wirklich großen Führer in der Geschichte gehen
nach rechts, mögen sie aus noch so großer Tiefe emporgekommen
sein: daran erkennt man den geborenen Herrn und Herrscher.
Das gilt von Cromwell und Mirabeau wie von Napoleon. Je reifer
die Zeit wird, desto aussichtsvoller ist dieser Weg. Der ältere Scipio
ging an dem Konflikt zwischen den Traditionen seiner Herkunft,
welche ihm die gesetzlose Diktatur verboten, und der geschichtlichen
Stellung, die er durch die Rettung Roms vor der karthagischen Ge-
fahr erhalten hatte, ohne es zu wollen, zugrunde und starb in der
Fremde. Damals begann die revolutionäre Bewegung erst die tra-
ditionsgesättigten Formen zu untergraben, so daß der jüngere Scipio
gegen die Gracchen noch eine schwache, Sulla gegen Marius bereits
eine sehr starke Stellung hatte, bis endlich Cäsar, der als Catilinarier
begann, keinen parteimäßigen Widerstand mehr fand. Denn die
Pompejaner waren keine Partei, sondern der Anhang eines Einzel-
nen. Die Weltrevolution, so stark sie beginnt, endet nicht in Sieg
oder Niederlage, sondern in Resignation der vorwärtsgetriebenen
Massen. Ihre Ideale werden nicht widerlegt; sie werden lang-
weilig. Sie bringen zuletzt niemand mehr dazu, sich für sie aufzu-
1 Von dem ererbten Bauernhof, der Werkstatt, der Firma mit altem Namen bis rar Erb -
monarchie. Die Republik ist seit 1789 eine Form der Opposition gegen den Erb-
DTE WEISSE WELT REVOLÜ TION
141
damit noch als Proletarier. Er hat mit der Zukunft nichts zu schaffen.
,nichtbürgeriiche" Gesellschaft läßt sich nur durch Terror
ür ein paar Jahre halten — dann hat man sie satt, ab-
len davon, daß inzwischen die Arbeiterführer zu neuen Bürgern
geworden sind. Und das ist nicht der Geschmack von echten Führer-
naturen.
Der Sozialismus jeder Art ist heute so veraltet wie seine liberalen
Ausgangsformen, wie alles, was mit Partei und Programm zusam-
menhängt. Das Jahrhundert des Arbeiterkultus — i84o bis 1940 —
ist unwiderruflich zu Ende. Wer heute „den Arbeiter" besingt, hat
die Zeit nicht verstanden. Der Handarbeiter tritt in das Ganze der
Nation zurück, nicht mehr als ihr verwöhntes Schoßkind, sondern
als die unterste Stufe der städtischen Gesellschaft. Die vom Klassen-
kampf herausgearbeiteten Gegensätze werden wieder zu bleiben-
den Unterschieden 1 von hoch und niedrig, und man gibt sich da-
mit zufrieden. Es ist die Resignation der römischen Kaiserzeit, in
der es keine wirtschaftlichen Probleme dieser Art mehr gab. Aber
was kann in den letzten Zeiten der sozialistischen Weltanarchie
noch zerstört und eingeebnet werden 1 So viel, daß in manchen wei-
ßen Völkern kein Stoff mehr vorhanden sein wird, mit dem ein Cäsar
seine Schöpfung aufbauen könnte, sein Heer — denn Heere wer-
den in Zukunft die Parteien ablösen — und seinen Staat.
Ist in dem, was sich heute in allen weißen Ländern, die am Kriege
beteiligt waren, unklar genüge die „Jugend", die „Frontgeneration"
nennt, 2 überhaupt schon ein tragfähiges Fundament für solche Män-
ner und Aufgaben der Zukunft vorhanden? Die tiefe Erschütterung
durch den großen Krieg, die alle Welt aus den trägen Illusionen von
Sicherheit und Fortschritt als dem Sinn der Geschichte herausriß,
zeigt sich nirgends deutlicher als in dem seelischen Chaos, das er
hinterließ. Daß man sich dessen nicht im geringsten bewußt ist
und eine neue Ordnung in sich zu tragen glaubt, beweist sein Vor-
handensein mehr als irgend etwas anderes. Den Menschen, die um
1890 geboren sind, hat der Anblick eines wirklich großen Führers
gefehlt. Die Gestalten Bismarcks und Moltkes, um von andern Län-
t S. 66.
2 Sind das
alt sind?
5o
DIE WEISSE WELTREVOLUTION
dern zu schweigen, waren bereits im Nebel einer historischen Lite-
ratur verschwunden. Sie hätten ein Maßstab für echte Größe sein
können, aber nicht ohne lebendige Gegenwart, und der Krieg hat
nicht einen bedeutenden Monarchen, keinen überragenden Staats-
mann, keinen siegreichen Schlachtendenker an entscheidender Stelle
gezeigt. Alle Denkmäler und Straßennamen helfen darüber nicht
hinweg. Die Folge davon war ein völliger Mangel an Autoritäts-
gefühi, mit dem die Millionen beider Seiten aus den Schützengräben
nach Hause kamen. Er zeigte sich in der hemmungslosen
haften Kritik an allem Vorhandenen, Menschen und Dk
daß vor allem einmal eine Spur von Selbstkritik dagewesen wäre.
Man lachte über das Gestern, ohne seine fortbestehende Macht zu
nach Diktaturen eigenen Geschmacks schrie, ohne einen Diktator
zu kennen oder anzuerkennen, mit der man Führer heute wählte
und anbetete und morgen verwarf — Primo de Rivera, d'Annunzio,
Ludendorff — , das Führertum als ein Problem diskutierte, statt
bereit zu sein, es als Tatsache hinzunehmen, wenn es einmal da
sein sollte. Der politische Dilettantismus führte das große Wort.
Jeder schrieb seinem künftigen Diktator vor. was er zu wollen hatte.
Jeder forderte Disziplin von den andern, weil er der Selbstdisziplin
nicht fähig war. Weil man vergessen hatte, was ein Staatenlenker ist,
verfiel man in eine Hysterie der Programme und Ideale, und erging
sich redend und schreibend in wüsten Träumen von dem, was bedin-
gungslos umgestaltet werden sollte — denn daß das möglich war,
setzte man als selbstverständlich voraus. Der Mangel an Respekt
vor der Geschichte war in keiner Zeit größer als in diesen Jahren.
Daß die Geschichte ihre eigene Logik hat, an der alle Programme
scheitern, wußte man nicht und wollte man nicht wahr haben. Aber
Bismarck kam zum Ziel, weil er den Gang der Geschichte seines
Jahrhunderts begriffen hatte und sich in sie einfügte. Das war
„Jugend" aller weißen Länder, welche eine Weltrevolu-
tion von zwei Jahrhunderten von unten her „beenden" wollte, weil
sie sie nicht begriff, und zwar in der Gestalt des Bolschewismus, von
dem sie selbst soviel in sich hatte, erhob sich das typisch revolutio-
näre Geschrei gegen den „Individualismus* 4 , in Deutschland, in Eng-
land, in Spanien, überall. Sie waren alle selbst kleine Individua-
listen — sehr kleine, ohne Talent, ohne Tiefe, aber eben deshalb
von dem krampfhaften Bedürfnis besessen, Recht zu haben — und
haßten deshalb die Überlegenheit der größeren, denen wenigstens
ein Hauch von Skepsis sich selbst gegenüber nicht fremd war. Alle
Revolutionäre sind humorlos — daran scheitern sie alle. Kleiner
Eigensinn und Mangel an Humor — das ist die Definition des Fa-
natismus. Daß Führertum, Autorität, Respekt und
sich ausschließen, kam ihnen gar nicht zu Bewußtsein.
Antiindividualismus ist die theoretische Mode des Augenblicks, unter
den Intellektuellen wider Willen aller weißen Länder, wie es gestern
ein Individualismus war, der sich nicht sehr davon unterschied. So
kümmerlich diese Art von Geist ist, sie ist das einzige, was sie haben.
Es ist Literatentum der großen Städte, nichts anderes, und nichts
weniger als neu, denn schon die Jakobiner hatten sich daran müde
tionalismus.
Worin besteht denn der „Sozialismus" dieser Helden., die gegen die
Freiheit der Persönlichkeit zu Felde ziehen? Es ist der unpersönliche
asiatische Kollektivismus des Ostens, der Geist der großen Ebene, 1
in Verbindung mit der westlichen levee en masse von 1792 : Was er-
Lch da eigentlich? Die Belanglosen, deren Zahl ihre einzige
ist. Es steckt sehr viel unterirdisch Slavisches darin, Reste
schichtlicher Rassen und ihres primitiven Denkens, auch Neid
entum, dessen unentwickelter Wille es von der Quai
►efreit, etwas zu wollen und nicht zu wissen
was, wollen zu müssen und es nicht zu wagen. Wer den Mut nicht
hat, Hammer zu sein, findet sich mit der Rolle des Amboß ab. Sie
löst zu sein, in der trägen Mehrheit unterzutauchen, d
Bedientenseele, die Sorgen des Herrn nicht zu haben
m Glück einer
— alles das
Die Apotheose des Herdengefühls ! Das letzte Mittel, die eigene Furcht
vor Verantwortung zu idealisieren! Dieser Haß gegen den Indi-
aus Feigheit und Scham ist die Karikatur der großen
ter des i4- und 1 5. Jahrhunderts und ihres „Lassens der Ich-
1 Unt. d. Abendl. II, S. 36 1.
144 DIE WEISSE W E L T REVO Lü T IO N
heit", wie es in der „Theologie deutseh 4 ' heißt. 1 Es waren starke
Seelen, welche damals die ungeheure, echt germanische Einsamkeit
des Ich in der Weh durchlebten und aus ihrer Qual heraus die
glühende Sehnsucht empfanden, in dem aufzugehen, was sie Gott
oder All oder anders nannten und das sie doch wieder selbst waren.
Das starke, unbeugsame Ich war ihr Verhängnis. Jeder Versuch,
seine Grenze zu uberschreiten, lehrte nur, daß es keine Grenze hatte.
Heute kennt man es einfacher: Man wird „Sozialist" und redet gegen
das Ich der andern.
Das eigene Ich macht ihnen keine Beschwerde. Die Einebnung der
Gehirne hat sich vollzogen: Man versammelt sich „in Masse", man
will „in Masse", man denkt „in Masse". Wer nicht mitdenkt, wer
selbst denkt, wird als Gegner empfunden. Die Masse statt der Gott-
heit ist nun das, worin sich das träge, dumme, an allerlei Hem-
mungen krankeich „versenkt": Auch das ist „Erlösung". Es ist bei-
nahe mystisch. Das wußte man schon 1792. Es ist das Bedürfnis des
Pöbels, mitzulaufen und mitzutun. Aber der preußische Stil ist ein
Entsagen aus freiem Entschluß, das Sichbeugen eines star-
ken Ich vor einer großen Pflicht und Aufgabe, ein Akt der Selbst-
beherrschung und insofern das Höchste an Individualismus, was
der Gegenwart möglich ist.
Die keltisch-germanische „Rasse" ist die willensstärkste, welche die
Welt gesehen hat. Aber dies „Ich will" — Ich will! — das die fau-
stische Seele bis an den Rand erfüllt, den letzten Sinn ihres Daseins
ausmacht und jeden Ausdruck der faustischen Kultur in Denken,
Tun, Bilden und Sichverhalten beherrscht, weckte das Bewußtsein
der vollkommenen Einsamkeit des Ich im unendlichen Raum. Wille
und Einsamkeit sind im letzten Grunde dasselbe. Daher das Schwei-
gen Moltkes und auf der andern Seite das Bedürfnis des weicheren,
weiblicheren Goethe nach immer wiederholten Bekenntnissen vor
einer selbstgewählten Mitwelt, das alle seine Werke durchdringt.
Es war die Sehnsucht nach einem Echo aus dem Weltraum, das
Leiden einer zarten Seele an dem Monologischen ihres Daseins. Man
kann auf die Einsamkeit stolz sein oder an ihr leiden, aber man lauft
nicht davon. Der religiöse Mensch der „ewigen Wahrheiten" — wie
Luther — sehnt sich nach Gnade und Erlösung von diesem Geschick,
1 Unt. d. Abendl. II, S. 35 7 .
DIE WEISSE WELTREVOLUTION 145
will sie erkämpfen, selbst ertrotzen. Der politische Mensch des Nor-
dens aber entwickelt daraus einen gigantischen Trotz der Wirk-
lichkeit gegenüber: „Du vertraust mehr auf dein Schwert als auf
Thor" heißt es in einer isländischen Saga. Wenn etwas in der Welt
Individualismus ist, so ist es dieser Trotz des Einzelnen gegen die
ganze Welt, das Wissen um den eigenen unbeugsamen Willen, die
Freude an letzten Entscheidungen und die Liebe zum Schicksal selbst
in dem Augenblick, wo man an ihm zerbricht. Und preußisch ist das
Sichbeugen aus freiem Willen. Der Wert des Opfers liegt darin,
daß es schwer ist. Wer kein Ich zu opfern hat, sollte nicht von
Gefolgstreue reden. Er läuft nur hinter jemand her, dem er die
Verantwortung aufgeladen hat. Wenn etwas heute in Erstaunen
setzen sollte, so ist es die Kümmerlichkeit des sozialistischen
Ideals, mit dem man die Welt erlösen möchte. Das ist keine
Befreiung von den Mächten der Vergangenheit: es ist die Fort-
setzung ihrer schlechtesten Neigungen. Es ist Feigheit dem Leben
gegenüber.
Die echte — echt preußische — Gefolgstreue ist das, was die
Welt in diesem Zeitalter der großen Katastrophen am nötigsten hat.
Man stützt sich nur auf etwas, das Widerstand leistet. An dieser Ein-
sicht bewährt sich der wirkliche Führer. Wer aus der Masse stammt,
muß um so besser wissen, daß Masse, Mehrheiten, Parteien keine
Gefolgschaft sind. Sie wollen nur Vorteile. Sie lassen den Voran-
gehenden im Stich, sobald er Opfer verlangt. Wer von der Masse
aus denkt und fühlt, wird in der Geschichte nie etwas anderes
hinterlassen als den Ruf eines Demagogen. Hier scheiden sich die
Wege nach links und rechts: Der Demagoge lebt unter der Masse
stets unter seinesgleichen. Der zum Herrschen Geborene kann sie
benützen, aber er verachtet sie. Er führt den schwersten Kampf
nicht gegen den Feind, sondern gegen den Schwärm seiner ailzu-
ergebenen Freunde.
Deshalb sind Heere und nicht Parteien die künftige Form der
Macht, Heere von selbstloser Ergebenheit, wie Napoleon seit Wag-
ram keines mehr besaß: Seine alten Soldaten waren zuverlässig, die
höheren Offiziere nicht, und der Wert jedes Heeres bemißt sich zu-
erst nach diesen. 1 Man sah in ihm nicht den Führenden, sondern
i S. 3 2 ff.
Spengler, Jahre I 10
146 DIE WEISSE WEZ VRE VO LU T I O N
den ewig Gebenden. Sobald die geforderten Opfer die Vorteile über-
wogen, war es mit der großen Armee zu Ende.
Es wird Zeit, daß die „weiße" Welt und Deutschland zuerst sich auf
solche Tatsachen besinnt. Denn hinter den Weltkriegen und der noch
unbeendeten proletarischen Weltrevolution taucht die größte aller
Gefahren auf, die farbige, und alles, was in den weißen Völkern
noch an „Rasse' 4 vorhanden ist, wird nötig sein, um ihr zu begeg-
nen. Deutschland vor allem ist keine Insel, wie die politischen Ideo-
logen meinen, die an ihm als Objekt ihre Programme verwirklichen
möchten. Es ist nur ein kleiner Fleck in einer großen und gärenden
Welt, allerdings in entscheidender Lage. Aber es hat allein das
Preußentum als Tatsache in sich. Mit diesem Schatz von vorbild-
lichem Sein kann es der Erzieher der „weißen" Welt, vielleicht ihr
Retter werden.
DIE FARBIGE WELTREVOLUTION
i j
Die abendländische Zivilisation dieses Jahrhunderts wird nicht
von einer, sondern von zwei Weltrevolutionen größten Ausmaßes
bedroht. Sie sind beide noch nicht in ihrem wahren Umfange, ihrer
Tiefe und ihren Wirkungen erkannt worden. Die eine kommt von
unten, die andere von außen: Klassenkampf und Rassenkampf.
Die eine liegt zum großen Teil hinter uns, wenn auch ihre entschei-
denden Schläge — etwa in der angloamerikanischen Zone — wahr-
scheinlich noch bevorstehen. Die andere hat erst im Weltkrieg mit
Entschiedenheit begonnen und gewinnt sehr rasch feste Tendenz
und Gestalt. In den nächsten Jahrzehnten werden beide nebeneinan-
der kämpfen, vielleicht als Verbündete: es wird die schwerste
Krise sein, durch welche die weißen Völker — ob einig oder nicht —
gemeinsam hindurchgehen müssen, wenn sie noch eine Zukunft
haben wollen.
Auch die „Revolution von außen' ' hat sich gegen jede der vergange-
nen Kulturen erhoben. Sie ging stets aus dem zähne knirschenden
Haß hervor, den die unangreifbare Überlegenheit einer Gruppe von
Kulturnationen, welche auf den zur Höhe gereiften politischen, mili-
tärischen, wirtschaftlichen und geistigen Formen und Mittein be-
ruhte, ringsum bei den hoffnungslos Unterlegenen, den „Wilden"
oder „Barbaren", den rechtlos Ausgebeuteten hervorrief. Dieser Ko-
lonialstil fehlt keiner Hochkultur. Aber ein solcher Haß schloß eine
geheime Verachtung der fremden Lebensform nicht aus, die man all-
mählich kennenlernte, spöttisch durchschaute und zuletzt hinsichtlich
der Grenzen ihrer Wirkung abzuschätzen wagte. Man sah, daß sich
vieles nachahmen ließ, daß anderes unschädlich gemacht werden
konnte oder nicht die Kraft besaß, die man ihm anfangs in starrem
Entsetzen zugeschrieben hatte. 1 Man schaute den Kriegen und Revo-
lutionen innerhalb der Welt dieser Herrenvölker zu, wurde durch
zwangsweise Verwendung in die Geheimnisse der Bewaffnung, 2
1 Das Urteil Jugurthas über Rom.
2 Dio Libyer und „Seevölker" durch die Ägypter des Neuen Reiches, die Germanen
durch Rom, die Türken durch die Araber, die Neger durch Frankreich.
148
DIE FARBIGE W E LT R EVO LU T I O N
Wirtschaft und Diplomatie eingeweiht. Man zweifelte endlich an
der wirklichen Überlegenheit der Fremden, und sobald man fühlte,
daß deren Entschlossenheit zu herrschen nachließ, begann man über
einen möglichen Angriff und Sieg nachzudenken. So war es im
China des dritten Jahrhunderts v. Chr., wo die Barbarenvölker nörd-
lich und westlich des Hoangho und südlich des Jangtsekiang in die
Entscheidungskämpfe der Großmächte hineingezogen wurden, in
der arabischen Welt der Abbassidenzeit, wo türkisch-mongolische
Stämme erst als Söldner, dann als Herren auftraten, und so war es
vor allem in der Antike, wo wir die Ereignisse genau übersehen
können, die vollkommen denen gleichen, in die wir unwiderruflich
hineinschreiten .
Die Barbarenangriffe auf die antike Welt beginnen mit den Kelten-
zügen seit 3oo, die immer wieder gegen Italien erfolgten, wo in der
Entscheidungsschlacht bei Sentinum (29a) gallische Stämme die
Etrusker undSamniten gegen Rom unterstützten und nochHannibal
sich ihrer mit Erfolg bedient hat. Um 280 eroberten andere Kelten
Makedonien und Nordgriechenland, wo infolge der innerpolitischen
Kämpfe jede staatliche Macht zu existieren aufgehört hatte, und
wurden erst vor Delphi aufgehalten. In Thrakien und Kleinasien
gründeten sie Barbarenreiche über einer hellenisierten, zum Teil
hellenischen Bevölkerung. Etwas später beginnt auch im Osten, in
dem zerfallenen Reich Alexanders des Großen, die barbarische Re-
aktion unter zahllosen Aufständen gegen die hellenische Kultur, die
Schritt für Schritt zurückweichen muß, 1 so daß seit 100 etwa Mithri-
starnen) und auf das immer stärkere Vordringen der Parther von
Ostiran gegen Syrien rechnend hoffen durfte, den im vollen Chaos
der Klassenkämpfe befindlichen römischen Staat zu zerstören. Er
konnte erst in Griechenland aufgehalten werden. Athen und andere
Städte hatten sich ihm angeschlossen, auch keltische Stämme, die
noch in Makedonien saßen. In den römischen Heeren herrschte
offene Revolution. Die einzelnen Teile kämpften gegeneinander,
und die Führer brachten sich gegenseitig um, selbst vor dem Feinde
(Fimbria). Damals hörte das römische Heer auf, eine nationale Truppe
DIE FARBIGE W EL T REVO L ü T IO N
Einzelnen. WasHannibal 218 gegen Rom geführt hatte, waren nicht
eigentlich Karthager gewesen, sondern überwiegend Leute aus den
wilden Stämmen des Atlas und Südspaniens, mit denen Rom dann seit
i46 furchtbare und endlose Kämpfe zu führen hatte — die Verluste
in diesen Kriegen waren es, die zur Auflehnung des römischen
denen der Römer Sertorius später einen gegen Rom gerichteten
Staat zu gründen versuchte. Seit n3 erfolgte der keltisch-germani-
sche Angriff der Kimbern und Teutonen, der erst, nach der Vernich-
tung ganzer römischer Heere von dem Revolutionsführer Marius
zurückgewiesen werden konnte, nachdem dieser von der Besiegung
Jugurthas zurückgekehrt war, der Nordafrika gegen Rom in Waffen
gebracht und durch Bestechung der römischen Politiker jahrelang
jede Gegenwirkung verhindert hatte. Um 60 begann eine zweite kel-
tisch-germanische Bewegung (Sueven, Helvetier), der Cäsar durch
iens entgegentrat,
zur
Crassus gegen die siegreichen Parther fiel. Aber dann war es mit
dem Widerstand durch Ausdehnung zu Ende. Der Plan Ca-
sars, das Alexanderreich wieder zu erobern und damit die Parther-
gefahr zu beseitigen, blieb unausgeführt. Tiberius mußte die Grenze
in Germanien zurückverlegen, nachdem es nicht gelungen war, die
in der Varusschlacht vernichteten Truppen zu ersetzen und beim
Tode des Augustus der erste große Aufstand der Grenzlegionen
stattgefunden hatte. Seitdem herrschte ein System der Defensive.
Aber die Armee füllte sich mehr und mehr mit Barbaren. Sie wird
eine unabhängige Macht. Germanen, Illyrier, Afrikaner, Araber kom-
men als Führer empor, während die Menschen de3 Imperiums im
Fellachentum eines ,, ewigen Friedens" versinken, und als vom Nor-
den und Osten her die großen Angriffe begannen, schloß nicht nur
die Zivilbevölkerung Verträge mit den Eindringenden ab und ging
freiwillig in ein Untertanenverhältnis zu ihnen über: Der späte Pazi-
fismus einer müden Zivilisation.
Aber immerhin war durch Jahrhunderte eine planmäßige Abwehr
dieser Zustände möglich, weil der Orbis terrarum des römischen
Reiches ein geschlossenes Gebiet war, das Grenzen hatte, die ver-
teidigt werden konnten. Viel schwerer ist die Lage beim heutigen Im-
perium der weißen Völker, das die ganze Erdoberfläche umfaßt und
, Farbigen* einschließt. Die weiße Menschheit hat sich in ihrem
idigen Drang zur unendlichen Ferne überallhin zerstreut, über
md Südamerika, Südafrika, Australien und über zahllose
Stützpunkte dazwischen. Die gelbe, braune, schwarze und rote Ge-
fahr lauert innerhalb des weißen Machtbereiches,
dringt in die
den weißen Mächten ein, beteiligt sich an ihnen und droht
Scheidung zuletzt selbst in die Hand zu bekommen.
Was alles gehört denn zur „farbigen' '' Welt? Nicht nur Afrika, die
Indianer — neben Negern und Mischlingen — in ganz Amerika, die
islamischen Völker, China, Indien bis nach Java hin, sondern vor
allem Japan undRußland. das wieder eine asiatische, „mongolische' '
Großmacht geworden ist. Als die Japaner Rußland besiegten, leuch-
tete eine Hoffnung über ganz Asien auf: Ein junger asiatischer
Staat hatte mit westlichen Mitteln die größte Macht des Westens in
die Knie gezwungen und damit den Nimbus der Unüberwindlich-
keit zerstört, der , .Europa" umgab. Das wirkte wie ein Signal, in
Indien, in der Türkei, selbst im Kapland und der Sahara: Es war
also möglich, den weißen Völkern die Leiden und Demütigungen
eines Jahrhunderts heimzuzahlen. Seitdem sinnt die tiefe Schlau-
heit asiatischer Menschen über Mittel nach, die dem westeuropä-
ischen Denken unzugänglich und überlegen sind. Und nun legte Ruß-
land, nachdem es 191 6 von Westen her die zweite entscheidende
Niederlage erlitten hatte, nicht ohne die spöttische Befriedigung des
verbündeten England, die „weiße" Maske ab und wurde wieder
asiatisch, aus ganzer Seele und mit brennendem Haß gegen Europa.
Es nahm die Erfahrungen von dessen innerer Schwäche mit
denen es die gesamte farbige Bevölkerung der Erde im Gedanken
des gemeinsamen Widerstandes durchdrang. Das ist, neben dem
Sieg des Arbeitersozialismus über die Gesellschaft der weißen Völker,
die zweite wirkliche Folge des Weltkrieges, der von den eigent-
lichen Problemen der großen Politik keines dem Verstehen näher
gebracht und keines entschieden hat. Dieser Krieg war eine Nieder-
lage der weißen Rassen, und der Friede von 19 18 war der erste
große Triumph der farbigen Welt: Es ist ein Symbol, daß sie im
Genfer „Völkerbund" — der nichts ist als das elende Symbol
DIE FARBIGE WELTREVOLU T 10 N
151
für schmachvolle Dinge — heute über die Streitfra
weißen
Staaten untereinander mitreden darf.
Daß die Auslandsdeutschen von Farbigen auf englischen und fran-
raschender Neuheit. Diese Methode beginnt mit der liberalen Re-
volution des 1 8. Jahrhunderts : 177» haben die Engländer Indianer-
blikanischen Amerikaner herfielen, und es sollte nicht vergessen sein,
in welcher Weise die Jakobiner die Neger von Haiti für die „Men-
schenrechte" in Bewegung setzten. Aber daß die Farbigen der gan-
zen Welt in Masse auf europäischem Boden von Weißen gegen
Weiße geführt wurden, die Geheimnisse der modernsten Kriegs-
mittel und die Grenzen ihrer Wirkung kennen lernten und in
dem Glauben nach Hause geschickt wurden, weiße Mächte besiegt
zu haben, das hat ihre Anschauung über die Machtverhältnisse der
und die Schwäche der andern: sie begannen die Weißen zu ver-
achten wie einst Jugurtha das mächtige Rom. Nicht Deutschland,
das Abendland hat den Weltkrieg- verloren,
Farbigen verlor.
Die Tragweite dieser Verschiebung des politischen Schwergewichts
ist zuerst in Moskau begriffen worden. In Westeuropa begreift man
sie noch heute nicht. Die weißen Herrenvölker sind von ihrem ein-
stigen Rang herabgestiegen. Sie verhandeln heute, wo sie gestern be-
fahlen, und werden morgen schmeicheln müssen, um verhandeln zu
dürfen. Sie haben das Bewußtsein der Selbstverständlichkeit ihrer
Macht verloren und merken es nicht einmal. Sie haben in der „Revo-
lution von außen" die Wahl der Stunde aus der Hand gegeben, an
Amerika und vor allem an Asien, dessen Grenze heute an der Weich-
sel und den Karpathen liegt. Sie sind seit der Belagerung Wiens
durch die Türken zum erstenmal wieder in die Verteidigung gedrängt
worden, und werden große Kräfte, seelisch wie militärisch, in der
Hand sehr großer Männer aufbringen müssen, wenn sie den ersten
gewaltigen Sturm überstehen wollen, der nicht lange auf sich warten
lassen wird.
In Rußland sind 191 7 beide Revolutionen, die weiße und die farbige,
zugleich ausgebrochen. Die eine, flach, städtisch, der Arbeitersozia-
H2 DIE FARBIGE WELTREVOLUTION
lismus mit dem westlichen Glauben an Partei und Programm, von
Literaten, akademischen Proletariern und nihilistischen Hetzern vom
Schlage Bakunins im Verein mit der Hefe der großen Städte ge-
macht, rhetorisch und literarisch durch und durch, schlachtete die
petrinische Gesellschaft von großenteils westlicher Herkunft ab und
setzte einen lärmenden Kultus „des Arbeiters" in Szene. Die Ma-
schinentechnik, der russischen Seele so fremd und verhaßt, war plötz-
lich eine Gottheit und der Sinn des Lebens geworden. Darunter aber,
langsam, zäh, schweigend, zukunftsreich, begann die andere Revo-
lution des Muschik, des Dorfes, der eigentlich asiatische Bolschewis-
mus. Der ewige Landhunger des Bauern, der die Soldaten von der
Front trieb, um die große Landverteilung mitzumachen, war ihr
erster Ausdruck. Der Arbeitersoziaiismus hat die Gefahr sehr bald
erkannt. Nach anfänglichem Bündnis begann er mit dem Bauernhaß
aller städtischen Parteien, ob liberal oder sozialistisch, den Kampf
gegen dies konservative Element, das stets in der Geschichte alle
politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bildungen in den Städten
überdauert hat. Er enteignete den Bauern, führte die tatsächliche
Leibeigenschaft und Fronarbeit, die Alexander II. seit 1862 auf-
gehoben hatte, wieder ein und brachte es durch feindselige und büro-
kratische Verwaltung der Landwirtschaft — jeder Sozialismus, der
von der Theorie zur Praxis übergeht, erstickt sehr bald in Büro-
kratie — dahin, daß heute die Felder verw ildert sind, der Viehreich-
tum der Vergangenheit auf einen Bruchteil zusammengeschmolzen
und die Hungersnot asiatischen Stils ein Dauerzustand geworden ist,
den nur eine willensschwache, zum Sklavendasein geborene Rasse
erträgt.
Aber der „weiße" Bolsechewismus ist hier rasch im Schwinden be-
griffen. Man wahrt nur noch das marxistische Gesicht nach außen,
um in Südasien, Afrika, Amerika den Aufstand gegen die weißen
Mächte zu entfesseln und zu leiten. Eine neue, asiatischere Schicht
von Regierenden hat die halb westliche abgelöst. Sie wohnt wieder
in den Villen und Schlössern rings um Moskau, hält sich Diener-
schaft und wagt es bereits, einen barbarischen Luxus zu entfalten im
Geschmack der beutereichen Mongolenkhane des 1 4- Jahrhunderts.
Es gibt einen „Reichtum" in neuer Form, der sich mit proletarischen
Begriffen umschreiben läßt.
DIE FARBIGE W E L T R E VOLü T 10 N 153
Man wird auch zum bäuerlichen Eigentum, zum Privateigentum
überhaupt zurückkehren, was die Tatsache der Leibeigenschaft nicht
ausschließt, und kann da3, denn das Heer hat die Macht, nicht mehr
die zivile „Partei 1 '. Der Soldat ist das einzige Wesen, das in Ruß-
land nicht hungert, und er weiß warum und wie lange. Diese Macht
ist von außen unangreifbar infolge der geographischen Weite des
überall in der Welt, verkleidet wie sie selbst. Ihre stärkste Waffe ist
die neue, revolutionäre, echt asiatische Diplomatie, die handelt statt
zu verhandeln, von unten und hinten, durch Propaganda, Mord und
Aufstand, und die damit der großen Diplomatie der weißen Länder
weit überlegen ist, die ihren alten aristokratischen Stil, der aus dem
Eskorial stammt und dessen letzter großer Meiste:
wesen ist, selbst durch politisierende Advokaten und
noch nicht ganz verloren hat.
Rußland ist der Herr Asiens. Rußland ist Asien. Japan gehört nur
geographisch dazu. Seiner „Rasse" nach steht es den östlichsten
Malayen, den Polynesien! und manchen Indianervölkern der West-
seite Amerikas zweifellos näher. Aber es ist zur See, was Rußland zu
Lande ist: Herr eines weiten Gebietes, in dem abendländische Mächte
keine Geltung mehr besitzen. England ist nicht entfernt in demselben
Grade Herr in „seinem 4 ' Empire, nicht einmal in den farbigen Kron-
kolonien. Japan dehnt seinen Einfluß weithin aus. Es hat ihn in
Peru und am Panamakanal. Die angebliche Blutsverwandtschaft zwi-
schen Japanern und Mexikanern ist auf beiden Seiten gelegentlich
betont und gefeiert worden. 1 In Mexiko entstand Anfang io,i4 in
führenden indianischen Kreisen der „Plan von San Diego", wonach
eine Armee von Indianern, Negern und Japanern in Texas und Ari-
zona einbrechen sollte. Die weiße Bevölkerung sollte massakriert,
die Negerstaaten selbständig werden und ein größeres Mexiko als
rein indianischer Rassestaat entstehen. 2 Wäre der Plan zur Ausfüh-
rung gekommen, so hätte der Weltkrieg mit einer ganz andern Ver-
teilung der Mächte und auf Grund andrer Probleme begonnen. Die
Monroedoktrin in Gestalt des Dollarimperialismus mit ihrer Spitze
1 L. Stoddard, The rising tide of color (1920) S. i3tff.
2 In der Stadt Mexiko steht eine Statue des letzten Azlekenkaisers Guatemozin.
würde es wagen, für Ferdinand Cortez dasselbe zu tun.
154 DIE FARBIGE WELTREVOLU T 10 N
gegen Lateinamerika wäre damit vernichtet worden. Rußland und
Japan sind heute die einzigen aktiven Mächte der Welt. Durch sie
ist Asien das entscheidende Element des Weltgeschehens geworden.
Die weißen Mächte handeln unter seinem Druck und merken es
nicht einmal.
Dieser Druck besteht in der Tätigkeit der farbigen, rassemäßigen Re-
volution, welche sich der weißen des Klassenkampfes bereits als
Mittel bedient. Von den Hintergründen der Wirtschaftskatastrophe
ist schon gesprochen worden. Nachdem die Revolution von unten in
Gestalt des Arbeitersozialismus durch die politischen Löhne Bresche
gelegt hatte, drang die farbige Wirtschaft, von Rußland und Japan
geführt, mit der Waffe niedriger Löhne ein und ist im Begriff, die
Zerstörung zu vollenden. 1 Dazu tritt aber die politisch-soziale Pro-
paganda in ungeheurem Ausmaß, die eigentlich asiatische Diplo-
matie dieser Tage. Sie durchdringt ganz Indien und China. Sie hat
auf Java und Sumatra zur Aufrichtung einer Rassefront gegen die
Holländer und zur Zersetzung von Heer und Flotte gef ührt. Sie wirbt
von Ostasien her um die sehr begabte indianische Rasse von Mexiko
schaflsgefühl, das sich gegen die weißen Herrenvölker richtet.
Auch hier hat die weiße Revolution seit 1770 der farbigen den
Boden bereitet. Die englisch-liberale Literatur von Mill und Spen-
cer, deren Gedankengänge bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen,
liefert die ,, Weltanschauung" an den höheren Schulen Indiens. Den
Weg von dort zuMarx finden dann die jungen Reforminder selbst. Der
chinesische Revolutionsführer Sunyatsen hat ihn in Amerika gefunden.
Daraus ist eine eigene Revolutionsliteratur entstanden, die in ihrem
Radikalismus Marx und Borodin weitaus in den Schatten stellt.
Die Unabhängigkeitsbewegung des spanischen Amerika seit Bolivar
(181 1) ist ohne die englisch-französische Revolutionsliteratur von
1 Wenn man hört, daß Japan in Java Fahrräder für 12 Mark und Glühbirnen für
5 Pfennig verkauft, während die weißen Länder das Vielfache davon fordern müssen, um
nur die Selbstkosten zu decken, wenn der kleine javanische Bauer mit Frau und Kind
den seibstgeemteten Sack Reis zur Hälfte des Preises anbietet, den die modernen Plan-
tagen mit ihrer weißen Beamtenschaft fordern müssen, dann blickt man in den Ab-
grund dieses Kampfes hinein. Da die abendländische Technik kein Geheimnis mehr ist
und in Vollendung nachgeahmt wird, so besteht der Gegensatz nicht mehr in der Methode
der Herstellung, sondern nur noch in deren Kosten.
DIE FARBIGE W E L T REVO LU T I O N
1770 — und das Vorbild Napoleons — nicht zu denken, sowenig als die
nordamerikanische gegen England. Ursprünglich war das ein Kampf
ausschließlich zwischen Weißen — der kreolischen, grundbesitzen-
den Aristokratie, die seit Generationen im Lande lebte, und der spa-
nischen Beamtenschaft, die das koloniale Herrenverhältnis aufrecht-
erhielt. Bolivar, ein reinblütiger Weißer wie Miranda und San Mar-
tin, hatte den Plan, eine Monarchie zu errichten, die von einer rein
weißen Oligarchie gestützt werden sollte. Noch der argentinische
Diktator Rosas — eine mächtige Gestalt „preußischen" Stils — ver-
Mexiko bis zum äußersten Süden auftrat, in den kirchenfeindlichen
Freimaurerklubs seine Stütze fand und die allgemeine Gleichheit,
auch der Rassen, forderte: Damit begann die Bewegung der rein-
und halbblütigen Indianer nicht nur gegen Spanien, sondern gegen
das weiße Blut überhaupt. Sie ist unablässig fortgeschritten und steht
heute nahe am Ziel. A. v. Humboldt schon hatte hier den Stolz auf die
rein iberische Abkunft bemerkt, und noch heute lebt in den vorneh-
men Geschlechtern Chiles die Tradition der Herkunft von Westgoten
und Basken 1 fort. Aber in der Anarchie, die seit der Mitte des
19. Jahrhunderts herrschend wurde, ist diese Aristokratie zum gro-
ßen Teil zugrunde gegangen oder nach Europa zurückgewandert. Die
„caudillos", kriegerische Demagogen aus der farbigen Bevölkerung,
beherrschen die Politik. Darunter sind reinblütige Indianer von sehr
großen Anlagen wie Juarez und Porfirio Diaz. Heute beträgt die
weiße oder sich für weiß haltende Oberschicht, von Argentinien
abgesehen, ein Viertel bis ein Zehntel der Bevölkerung. In manchen
Staaten sind die Ärzte, Advokaten, Lehrer, sogar die Offiziere fast
ausschließlich Indianer und fühlen sich dem Mischlingsproletariat
der Städte, dem Mechopelo, im Haß gegen den weißen Besitz verwandt,
ob er sich nun in kreolischen, englischen oder nordamerikanischen
ien befindet. In Peru, Bolivia und Ecuador ist das Aymara die
Kult mit dem angeblichen Kommunismus
darin von Moskau unterstützt. Das Rasseideal einer reinen Indianer-
herrschaft steht vielleicht dicht vor seiner Verwirklichung.
1 Und von den zwangsweise bekehrten Arabern und Juden, den Marancn, die man an
156
DIE FARBIGE WELTREVOLUTION
In Afrika ist es der christliche Missionar, vor allem der englische
Methodist, der in aller Unschuld — mit seiner Lehre von der Gleich-
heit aller Menschen vor Gott und der Sünde des Reichseins — den
Boden pflügt, auf dem der bolschewistische Sendbote sät und erntet.
Außerdem folgt von Norden und Osten her, heute schon gegen den
Sambesi vordringend (Nyassaland), der islamische Missionar seinen
Spuren mit weit größerem Erfolg. Wo gestern eine christliche Schule
stand, steht morgen eine Moscheehütte. Der kriegerische, männliche
Geist dieser Religion ist dem Neger verständlicher als die Lehre vom
e ihm nur die Achtung vor den Weißen nimmt; und vor
ist der christliche Priester verdächtig, weil er ein weißes Her-
vertritt, gegen das sich die islamische Propaganda, mehr
Is dogmatisch, mit kluger Entschiedenheit richtet. 1
se farbige Gesamtrevolution der Erde schreitet unter sehr ver-
schiedenen Tendenzen vor, nationalen, wirtschaftlichen, sozialen ; sie
richtet sich öffentlich bald gegen weiße Regierungen von Kolonial-
reichen (Indien) oder im eigenen Lande (Kapland), bald gegen eine
weiße Oberschicht (Chile), bald gegen die Macht des Pfundes oder
Dollars, eine fremde Wirtschaft überhaupt, auch gegen die eigene
Finanzwelt, weil sie mit der weißen Geschäfte macht (China), gegen
die eigene Aristokratie oder Monarchie; religiöse Momente treten
hinzu : Der Haß gegen das Christentum oder gegen jede Art von
Weltanschauung und Moral. Aber in der Tiefe liegt seit
revolution in China, dem Sepoyaufstand in Indien, dem der Mexi-
kaner gegen Kaiser Maximilian überall ein und dasselbe: Der Haß
gegen die weiße Rasse und der unbedingte Wille, sie zu vernichten.
Es ist dabei gleichgültig, ob uralte müde Zivilisationen wie die indi-
sche und chinesische ohne fremde Herrschaft fähig sind, Ordnung
Joch abzuwerfen, und das ist der Fall. Wer unter den farbigen
Mächten der nächste Herr ist, ob Rußland, ob Japan, ob ein großer
1 Aber es gibt auch eine äthiopische, europäerfeindliche Methodistenkirche, die von den
Vereinigten Staaten her Mission treibt und z. B. 1907 in Natal und 19 15 im Njrassa-
ägyptische Zivilisation hat seit 1000 v. Chr. sehr
wechselt — Libyer, Assyrer, Perser, Griechen, Römer — ,
zur Selbstregierung nie wieder fähig, aber immer wieder zu einem
siegreichen Aufstand. Und ob von den vielen andern Zielen auch
nur eines verwirklicht wird oder werden kann, das ist zunächst voll-
kommen Nebensache. Die große geschichtliche Frage ist, ob der
Sturz der weißen Mächte gelingt oder nicht. Und darüber hat sich
eine schwerwiegende Einheit des Entschlusses ausgebildet, die zu
denken gibt. Und was besitzt die weiße Welt an Kräften des seeli-
20
Sehr wenig, wie es zunächst scheint. Auch ihre Völker sind an der
Kultur müde geworden. Im Feuer der hohen Form und im Ringen
nach innerer Vollendung hat sich die seelische Substanz verzehrt.
Vielfach ist nur noch Glut, oft nur Asche übrig, aber das gilt nicht
überall. Je weniger ein Volk in den Wirbel vergangener Geschichte
führend hineingezogen wurde, desto mehr Chaos, das Form werden
kann, hat es bewahrt. Und wenn der Sturm großer Entscheidungen
darüber hinbraust, wie 1914, schlagen die verborgenen Funken
plötzlich als Flammen empor. Gerade in der germanischen Rasse,
der willensstärksten, die es je gegeben hat, schlaf en noch große Mög-
lichkeiten.
Aber wenn hier von Rasse die Rede ist, so ist das nicht in dem Sinne
gemeint, wie er heute unter Antisemiten in Europa und Amerika
Mode ist, darwinistisch, materialistisch nämlich. Rassereinheit ist ein
groteskes Wort angesichts der Tatsache, daß seit Jahrtausenden alle
Stämme und Arten sich gemischt haben, und daß gerade kriege-
rische, also gesunde, zukunftsreiche Geschlechter von jeher gern
einen Fremden sich eingegliedert haben, wenn er „von Rasse" war,
gleichviel zu welcher Rasse er gehörte. Wer zuviel von Rasse
spricht, der hat keine mehr. Es kommt nicht auf die reine, sondern
auf die starke Rasse an, die ein Volk in sich hat.
Das zeigt sich zunächst in der selbstverständlichen, elemen-
taren Fruchtbarkeit, dem Kinderreichtum, den das geschichtliche
158
DIE FARBIGE WELT REVOLUTION
Leben verbrauchen kann, ohne ihn je zu erschöpfen. Gott ist nach
dem bekannten Worte Friedrichs des Großen immer bei den stärke-
ren Bataillonen — das zeigt sich gerade hier. Die Millionen Gefalle-
ner des Weltkrieges waren rassemäßig das beste, was die weißen
Völker hatten, aber die Rasse beweist sich darin, wie schnell sie er-
setzt werden können. Ein Russe sagte mir : Was wir in der Revolution
geopfert haben, bringt das russische Weib in zehn Jahren wieder
ein. Das ist der richtige Instinkt. Solche Rassen sind unwidersteh-
lich. Die triviale Lehre von Malthus, die Unfruchtbarkeit als Fort-
schritt zu preisen, die heute in allen weißen Ländern gepredigt wird,
beweist nur, daß diese Intellektuellen ohne Rasse sind, ganz abge-
sehen von der nachgerade trottelhaften Meinung, daß Wirtschafts-
krisen durch Revölkerungsschwund beseitigt werden könnten. Das
Gegenteil ist der Fall. Die „starken Bataillone", ohne die es keine
große Politik gibt, geben auch dem Wirtschaftsleben Schutz, Kraft
und inneren Reichtum.
Das Weib von Rasse will nicht „Gefährtin" oder „Geliebte" sein,
sondern Mutter, und nicht die Mutter eines Kindes als Spielzeug
und Zeitvertreib, sondern vieler: Im Stolz auf den Kinderreichtum,
im Gefühl, daß Unfruchtbarkeit der härteste Fluch ist, der ein Weib
und durch sie das Geschlecht treffen kann, redet der Instinkt von
starken Rassen. Aus ihm stammt die Ureif ersucht, mit der ein Weib
dem andern den Mann zu entreißen sucht, den es selbst als Vater
seiner Kinder besitzen will. Die geistigere Eifersucht der großen
Städte, die wenig mehr ist als erotischer Appetit und den anderen
Teil als Genußmittel wertet, das bloße Nachdenken über die ge-
wünschte oder gefürchtete Kinderzahl verrät schon den erlöschenden
Trieb der Rasse zur Dauer, der sich nicht durch Reden und Schrei-
ben wieder erwecken läßt. Die Urehe — oder was alte Volkssitte
sonst an tief gewurzelten Bräuchen kennt, um die Zeugung zu heili-
gen — ist nichts weniger als sentimental. Der Mann will tüchtige
Söhne haben, die seinen Namen und seine Taten über den eigenen
Tod hinaus in die Zukunft dauern und wachsen lassen, wie er selbst
sich als Erbe des Rufes und des Wirkens seiner Ahnen fühlt. Das ist
die nordische Idee der Unsterblichkeil. Eine andere haben diese
Völker nicht gekannt und nicht gewollt. Darauf beruht die gewaltige
Sehnsucht nach Ruhm, der Wunsch, in einem Werk unter den
DIE FARBIGE W E LT REVOLU T 10 N
Nachkommen fortzuleben, seinen Namen auf Denkmälern verewigt
zu sehen oder zum mindesten ein ehrenvolles Gedächtnis zu erhalten.
Deshalb ist der Erbgedanke von der germanischen Ehe nicht zu tren-
nen. Wenn die Idee des Eigentums verfällt, löst sich der
Sinn der Familie in nichts auf. Wer sich gegen die eine wendet,
greift auch die andere an. Der Erbgedanke, der am Dasein jedes
Bauernhofes, jeder Werkstatt, jeder alten Firma haftet, an ererbten
Berufen, 1 und in der Erbmonarchie seinen höchsten symbolischen
Ausdruck gefunden hat, bürgt für die Stärke des Rasseinstinktes.
Der Sozialismus greift ihn nicht nur an, sondern ist durch sein
bloßes Vorhandensein schon ein Zeichen für dessen Niedergang.
Aber der Verfall der weißen Familie, der unentrinnbare Ausdruck
großstädtischen Daseins, greift heute um sich und verzehrt die
„Rasse" der Nationen. Der Sinn von Mann und Weib geht verloren,
der Wille zur Dauer. Man lebt nur noch für sich selbst, nicht für
die Zukunft von Geschlechtern. Die Nation als Gesellschaft, ur-
sprünglich das organische Geflecht von Familien, droht sich von
der Stadt her in eine Summe privater Atome aufzulösen, deren
jedes aus seinem und dem fremden Leben die größtmögliche Menge
von Vergnügen — panem et circenses — ziehen will. Die Frauen-
emanzipation der Ibsenzeit will nicht die Freiheit vom Mann, son-
dern vom Kinde, von der Kinderlast, und die gleichzeitige Män-
neremanzipation die von den Pflichten für Familie, Volk und Staat.
Die gesamte liberal-sozialistische Problemliteratur bewegt sich um
diesen Selbstmord der weißen Rasse. Es war in allen anderen Zivi-
Die Folgen liegen vor unseren Augen. Die farbigen Rassen der Welt
waren bisher doppelt so stark wie die weißen. Aber um 1980 hatte
Rußland einen jährlichen Geburtenüberschuß von 4, Japan von
2 Millionen, Indien hat 192 1 — 3i um 34 Millionen zugenommen.
In Afrika werden die
noch gewaltiger vermehren, seitdem die euroj
„eingebrochen" ist und die starke Auslese durch Krankheiten ver-
snüber haben Deutschland und Italien einen Ge-
2 Unt. d. Abendl. II, S. i23ff.
160 DIE FARBIGE W E LT REVO LU T IO N
burtenübersehuß von weniger als einer halben Million, England, das
Land der öffentlich empfohlenen Geburteneinschränkung, weniger
als die Hälfte davon, Frankreich und das alteingesessene Yankeetum
der Vereinigten Staaten 1 keinen mehr. Das letztere, die bisher herr-
" germanischer Prägung, schwindet seit Jahrzehnten
dahin. Die Zunahme der Bevölkerung liegt ganz auf Seiten
j;er und der seit 1 900 eingewanderten Ost- und Südeuropäer.
In Frankreich haben manche Departements seit 5o Jahren über ein
Drittel der Bevölkerung verloren. In einzelnen ist die Geburtenzahl
um die Hälfte niedriger als die der Todesfälle. Einige kleine Städte
und viele Dörfer stehen fast leer. Von Süden her dringen Katalonen
und Italiener als Bauern ein, Polen und Neger überall sogar in den
Mittelstand. Es gibt schwarze Geistliche, Offiziere und Richter. Diese
Zugewanderten, weit über ein Zehntel der Einwohnerschaft, halten
mit ihrer Fruchtbarkeit allein die Kopfzahl der „Franzosen" an-
nähernd auf der gleichen Höhe. Aber der echte Franzose wird in ab-
sehbarer Zeit nicht mehr Herr in Frankreich sein. Die scheinbare Zu-
nahme der weißen Gesamtbevölkerung der ganzen Erde, so gering
sie im Verhältnis zum Anschwellen der Farbigen ist, beruht auf
einer vorübergehenden Täuschung : Die Zahl der Kinder wird immer
kleiner, und nur die Zahl der Erwachsenen nimmt zu, nicht weil es
mehr sind, sondern weil sie länger leben.
Aber zu einer starken Rasse gehört nicht nur eine unerschöpfliche
Geburtenzahl, sondern auch eine harte Auslese durch die Wider-
stände des Lebens, Unglück, Krankheit und Krieg. Die Medizin des
19. Jahrhunderts, ein echtes Produkt des Rationalismus, ist von
dieser Seite her betrachtet ebenfalls eine Alterserscheinung. Sie ver-
Leben, ob es lebenswert ist oder nicht. Sie verlängert
Sie ersetzt die Zahl der Kinder durch die Zahl der
kommt der Weltanschauung des panem et circenses ent-
e sie den Wert des Lebens am Quantum der Lebenstage
und nicht an deren Gehalt. Sie verhindert die natürliche Aus-
lese und steigert dadurch den Rasseverfall. Die Zahl der unheilbar
Geisteskranken ist in England und Wales seit 20 Jahren von 4,6 auf
8,6 vom Tausend gestiegen. In Deutschland beträgt die Zahl der
geistig Minderwertigen fast eine halbe, in den
1 Ebenso das weiße Element in Südafrika und Australien.
DIE FARBIGE WELT REVOLUTION
161
weit über eine Million. Nach einem Bericht des früheren Präsiden-
ten Hoover haben von den Jugendlichen Amerikas 1 36oooo Sprach-
und Gehörfehler, i oooooo Herzleiden, 876000 sind schwer erziehbar
oder verbrecherisch, 45oooo geistig minderwertig, 3ooooo Krüppel,
60000 blind. Aber dazu kommt die ungeheure Menge der geistig,
seelisch und leiblich Unnormalen jeder Art, der Hysterischen,
Seelen- und Nervenkranken, die gesunde Kinder weder zeugen noch
gebären können. Ihre Zahl läßt sich nicht erfassen, aber sie geht
aus der Zahl der Ärzte hervor, die davon leben, und der Masse von
Büchern, die darüber geschrieben werden. Aus solchem Nachwuchs
entwickeln sich das revolutionäre Proletariat mit dem Haß der
und Literaten, die den Reiz solcher !
verkünden.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß bedeutende .
und fast nie einzige Kinder sind. Die kinderarme Ehe
nicht nur gegen die Quantität, sondern vor allem auch gegen die
Qualität der Rasse. Was ein Volk ebenso nötig braucht als gesunde
Rasse in sich selbst, ist das Vorhandensein einer Auslese von Über-
legenen, die es führen. Eine Auslese, wie sie der englische Kolonial-
dienst und das preußische Offizierkorps — auch die katholische
Kirche — heranbildeten, indem sie unerbittlich und ohne Rücksicht
auf Geld und Abkunft nur die sittliche Haltung und die Bewährung
in schwierigen Lagen gellen ließen, wird aber unmöglich, wenn das
vorhandene Material nirgends über den Durchschnitt hinausragt.
Die Auslese des Lebens muß vorangegangen sein ; dann erst kann die
des Standes erfolgen. Ein starkes Geschlecht hat starke Eltern nötig.
Etwas vom Barbarentum der Urzeit muß noch im Blute liegen, unter
' Formenstrenge alter Kultur, das in schweren \
um zu retten und zu siegen.
Dies Barbarentum ist das, was ich starke Rasse nenne, 1
Kriegerische im Typus des Raubtieres Mensch. Es scheint oft nicht
mehr da zu sein, aber es liegt sprungbereit in der Seele. Eine starke
Herausforderung, und es hat den Feind unter sich. Es ist nur dort er-
raten Städte seinen Schlamm über
1 Ich wiederhole:
eine ist Ethos, das andere
I 11
DIE FA R B Ii
die Generationen wälzt, den müden Wunsch nach Ruhe um jeden
Preis, ausgenommen den des eigenen Lebens. Das ist die seelische
Selbstentwaffnung nach der leiblichen durch Unfruchtbarkeit.
Warum ist das deutsche Volk das unverbrauchteste der weißen Welt
und also das, worauf man am stärksten hoffen darf? Weil seine
politische Vergangenheit ihm keine Gelegenheit gab, sein wertvollstes
Blut und seine großen Begabungen zu verschwenden. Es ist der
einzige Segen unserer elenden Geschichte seit i5oo. Sie hat mit uns
gespart. Sie machte uns zu Träumern und Theoretikern in Dingen
der großen Politik, weltfremd und blind, eng, zänkisch und provin-
zial, aber das läßt sich überwinden. Es war kein organischer Fehler,
kein angeborener Mangel an Fähigkeiten, wie die Kaiserzeit beweist.
Das tüchtige Blut, die Grundlage auch der geistigen Überlegenheit
jeder Art, war da und blieb erhalten. Die große Geschichte ist an-
spruchsvoll. Sie verzehrt die rassemäßig besten Elemente. Sie hat
deckung Amerikas die nordische Völkerwanderung, die tausend Jahre
vorher in Südeuropa zum Stillstand gekommen war, in großem Stile
wieder begann und sich über die Meere hin fortsetzte, gingen die
kraftvollen Geschlechter Spaniens von großenteils nordischer Ab-
kunft nach drüben, wo sie kämpfen, wagen und herrschen konnten.
Die wertvollste Aristokratie spanischer Prägung saß um 1800 dort,
und das starke Leben erlosch im Mutteriande. Ebenso hat sich die
zum Herrschen berufene Oberschicht Frankreichs an der großen
Politik seit Ludwig XIII. und nicht nur an ihr verbraucht — auch
die hohe Kultur bezahlt sich teuer — und noch mehr die angel-
sächsische am englischen Weltreich. Was hier an überlegenen Ge-
schlechtern vorhanden war, sandte die Männer nicht in die Kontore
und kleinen Ämter der heimatlichen Insel. Sie folgten dem Wikinger-
drang nach einem Leben in Gefahr und gingen überall in der Welt
in zahllosen Abenteuern und Kriegen zugrunde, wurden vom Klima
haben.
amerika die Grundlage einer neuen Herrenschicht
Was übrig blieb, wurde „konservativ**, das bedeutet hier : unschöpfe-
risch, müde, voll von unfruchtbarem Haß gegen alles Neue und Un-
vorhergesehene. Auch Deutschland hat sehr viel von seinem besten
Blut in fremden Heeren und an fremde Nationen verloren. Aber der
DIE FÄRBIGE W E LT REVOLU T ION
Provinzialismus seiner politischen Zustände stimm te den Ehrgeiz der
Begabten auf das Dienen an kleinen Höfen, in kleinen Heeren und
Verwaltungen herab. 1
ein
und fruchtbarer
Mittelstand geblieben. Der Adel blieb zum größten Teil höheres
Bauerntum. Es gab keine große Welt und kein reiches Leben. Die
„Rasse" im Volkstum schlief und wartete auf den Weckruf einer
großen Zeit. Hier liegt, trotz der Verwüstungen der letzten Jahr-
zehnte, ein Schatz von tüchtigem Blut, wie ihn kein anderes Land be-
sitzt. Er kann geweckt und muß durchgeistigt werden, um für die
gewaltigen Aufgaben der Zukunft bereit und wirksam zu sein. Aber
diese Aufgaben sind heute da. Der Kampf um den Planeten hat be-
gonnen. Der Pazifismus des liberalen Jahrhunderts muß überwun-
den werden, wenn wir weiterleben wollen.
Wie weit sind die weißen Völker schon in ihn hineingeschritten? Ist
das Geschrei gegen den Krieg eine geistige Geste oder die ernsthafte
aichte auf
zu wc
Freiheit? Aber das Leben ist Krieg. Kann man seinen Sinn
abschieden und es doch behalten? Das Bedürfnis nach fellachen-
hafter Ruhe, nach
stört, gegen das Schicksal in jeder Gestalt, scheint
eine Art Mimikry gegenüber der Weltgeschichte, das
menschlicher Insekten angesichts der Gefahr, das
inhaltleeren Daseins, durch dessen Langeweile Jazzmusik i
tanze den Totenmarsch einer großen Kultur zelebrieren.
Aber das kann nicht sein und darf nicht sein. Der Hase täuscht viel-
leicht den Fuchs. Der Mensch kann den Menschen nicht täuschen.
Der Farbige durchschaut den Weißen, wenn er von „Menschheit*'
und ewigem Frieden redet. Er wittert die Unfähigkeit und den feh-
lenden Willen, sich zu verteidigen. Hier tut eine große Erziehung
not, wie ich sie als preußisch bezeichnet habe und die man meinet-
wegen „sozialistisch" nennen mag — was kommt auf Worte an! Eine
Erziehung, welche durch lebendiges Vorbild die schlafende Kraft
weckt, nicht Schule, Wissen, Bildung, sondern seelische Zucht,
die das heraufholt, was noch da ist, es stärkt und zu neuer
bri
1 Außer im Habsburger Staat,
gelaugt und verschwendet hat.
Ii*
pocht an die Tür. Die Farbigen sind nicht Pazifisten. Sie hängen
nicht an einem Leben, dessen Länge sein einziger Wert ist. Sie
nehmen das Schwert auf, wenn wir es niederlegen. Sie haben
den Weißen einst gefürchtet, sie verachten ihn nun. In ihren Augen
steht das Urteil geschrieben, wenn weiße Männer und Frauen sich
vor ihnen so aufführen, wie sie es tun, zu Hause oder in den far-
bigen Ländern selbst. Einst packte sie Entsetzen vor unserer Macht
— wie die Germanen vor den ersten römischen Legionen. Heute, wo
sie selbst eine Macht sind, reckt sich ihre geheimnisvolle Seele auf,
die wir nie verstehen werden, und sieht auf den Weißen herab wie
auf etwas Gestriges.
Aber die größte Gefahr ist noch gar nicht genannt worden: Wie,
wenn sich eines Tages Klassenkampf und Rassenkampf zusammen-
schließen, um mit der weißen Welt ein Ende zu machen? Das
liegt in der Natur der Dinge, und keine der beiden Revolutionen
wird die Hilfe der andern verschmähen, nur weil sie deren Träger
verachtet. Gemeinsamer Haß löscht gegenseitige Verachtung aus.
Und wie, wenn sich an ihre Spitze ein weißer Abenteurer stellt,
wie wir schon manche erlebt haben, einer, dessen wilde Seele im
Treibhaus der Zivilisation nicht atmen konnte und in gewagten Ko-
lonialunternehmen, unter Piraten, in der Fremdenlegion sich an Ge-
fahren zu sättigen versuchte, bis er hier plötzlich ein großes Ziel vor
Augen sieht? Mit solchen Naturen bereitet die Geschichte ihre gro-
ßen Überraschungen vor. Der Ekel tiefer und starker Menschen an
unseren Zuständen und der Haß tief Enttäuschter könnte sich schon
zu einer Auflehnung steigern, die Vernichtung will. Auch das war
der Zeit Casars nicht fremd. Jedenfalls: Wenn in den Vereinigten
Staaten das weiße Proletariat losbricht, wird der Neger zur Stelle
sein und hinter ihm werden Indianer und Japaner auf ihre Stunde
warten. Das schwarze Frankreich würde in solchem Falle ebenso-
wenig zögern, die Pariser Szenen von 1792 und 1871 zu übertreffen.
Und würden die weißen Führer des Klassenkampfes je verlegen sein,
wenn farbige Unruhen ihnen den Weg öffneten? Sie sind in ihren
Mitteln nie wählerisch gewesen. Es würde sich nichts ändern, wenn
Moskau als Befehlsgeber verstummen sollte. Es hat sein Werk getan,
ich selbst fort. Wir haben vor de
»e und Klassenkämpfe ge
DIE FARBIGE W ELT REVOLÜ T ION 1U
erniedrigt und verraten; wir haben sie aufgefordert, sich daran zu
beteiligen. Wäre es ein Wunder, wenn sie das endlich auch für sich
täten?
Hier erhebt die kommende Geschichte sich hoch über Wirtschafts-
nöte und innerpolitische Ideale. Hier treten die elementaren Mächte
des Lebens selbst in den Kampf, der um alles oder nichts geht. Die
Vorform des Gäsarismus wird sehr bald bestimmter, bewußter, un-
verhüllter werden. Die Masken aus dem Zeitalter parlamentarischer
Zwischenzustände werden ganz fallen. Alle Versuche, den Gehalt der
Zukunft in Parteien aufzufangen, werden rasch vergessen sein. Die
faschistischen Gestaltungen dieser Jahrzehnte werden in neue, nicht
vorauszusehende Formen übergehen und auch der Nationalismus
heutiger Art wird verschwinden. Es bleibt als formgebende Macht nur
der kriegerische, „preußische" Geist, überall, nicht nur in Deutsch-
land. Das Schicksal, einst in bedeutungsschweren Formen und großen
Traditionen zusammengeballt, wird in der Gestalt formloser Einzel-
gewalten Geschichte machen. Die Legionen Casars wachen wieder
auf.
Hier, vielleicht schon in diesem Jahrhundert, warten die letzten
Entscheidungen auf ihren Mann. Vor ihnen sinken die kleinen Ziele
und Begriffe heutiger Politik in nichts zusammen. Wessen Schwert
hier den Sieg erficht, der wird der Herr der Welt sein. Da liegen die
Würfel des ungeheuren Spiels. Wer wagt es sie zu werfen?
OSWALD SPENGLER
POLITISCHE SCHRIFTEN
Volksausgabe. XV, 338 Seiten gr.8°. Geheftet RM 3.60, in Leinen RM 4.80
Die Ausgabe enthält folgende bis jetzt unveröffentlichte Vorträge: Das Doppelantlitz Rußlands und die
deutschen Ostprobleme (Februar 1921). Neue Formen der Weltpolitik (April 1924). Das Verhältnis von
Wirtschaft und Steuerpolitik seit 1750 (September 1924). Das heutige Verhältnis zwischen Weltwirtschaft
und Weltpolitik (November 1926). - Weiterer Inhalt : Preußentum und Sozialismus (Herbst 1919).
Politische Pflichten der deutschen Jugend (April 1924)- Neubau des Deutschen Reiches (1924).
DER MENSCH UND DIE TECHNIK
Beitrag zu einer Philosophie des Lebens
50. Tausend. VII, 89 Seiten 8°. Geheftet RM 2.-, in Leinen RM 3.20
,.In einem schmalen Bande ein ungeheueres Schicksal. . . . Ein echter Spengler. Erschütternd in den
Hauptsachen, angreifbar in den Einzelheiten, ungeheuer anregend auch da - oder gerade da!-, wo er
am meisten zum Widerspruch reizt ..."Kölnische Zeitung
PREUSSENTUM UND SOZIALISMUS
75.-78. Tausend. IV, 99 Seiten gr. 8°. Geheftet RM 2.25, gebunden RM 2.80
Inhalt: Einleitung. Die Revolution 1918. Sozialismus als Lebensform. Engländer und Preußen. Marx.
Die Internationale.
NEUBAU DES DEUTSCHEN REICHES
45.-46. Tausend. IV, 104 Seiten gr. 8°. Geheftet RM 2.50
Inhalt : 1. Der Sumpf. 2. Staatsdienst und Persönlichkeit. 3. Recht als Ergebnis von Pflichten. 4. Die
Ii rzichung - Zucht oder Bildung? 5. Die deutsche Währung. 6. Gegen den Steuerbolschewismus.
7. Arbeit und Eigentum. 8. Die Weltlage.
POLITISCHE PFLICHTEN DER DEUTSCHEN JUGEND
Rede, gehalten am 26. Febr. 1924 im Hochschulring deutscher Art in Würzburg
32. und 33. Tausend. 32 Seiten gr. 8°. Geheftet RM 1.-
DER UNTERGANG DES ABENDLANDES
Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Zwei Bände
I. Band: Gestalt und Wirklichkeit. 108.-1 13. Tausend. XV, 549 Seiten gr. 8°
II. Band: Welthistorische Perspektiven. 87.-91. Tausend. VII, 666 Seiten gr. 8°
Jeder Band geheftet RM 12.-, in schwarzem Buckramleinen RM 16.-, Vorzugsausgabe auf
büttenartigem Papier in Halbpergament zusammen RM 42.-, Register dazu RM 6.50
Sonderdrucke aus dem „Untergang des Abendlandes 11 :
DER STAAT
Mit einem Vorwort. 6.-11. Tausend. IV, 180 Seiten gr. 8°. Geheftet RM 3.50
DIE WIRTSCHAFT
Mit einem Vorwort. 6.-9. Tausend. IV, 49 Seiten gr.8°. Geheftet RM 2.20
C.H.BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG MÜNCHEN
Europas Weg schicksalse
tri TM hat die Anhäufung de« Krlsen-
stoffe-s In Europa und der Welt, das Maß an
wirtschaftlicher, politischer und sozialer' Not
und Verzweiflung einen Punkt erreicht, der es
geboten erscheinen läßt, eine europäische Bilanz
zu ziehen und zu fragen, was dieses Europa
von den kommenden Jahren und Jahrzehnten,
wenn nicht Jahrhunderten zu hoffen haben wird.
Eine solche Bilanz ist um so notwendiger, als
dieses Europa sicherlich nicht mehr der mäch-
tigste Staatenkomplex in der "Welt ist, wohl aber
durch die Zahl und Intelligenz seiner Bewohner
das Schicksal der Welt in seinen Händen wie
auf einer Waage hält. Wenn das Abendland
wirklich zum Untergang bestimmt wäre, hätte
auch die übrige freie Welt nur wenig Chancen,
sich auf die Dauer dem bolschewistischen An-
sturm zu erwehren. E« ist deshalb eine Schick-
salsfrage für die Welt überhaupt, welchen Weg
Europa künftig gehen wird.
Hat Spengler recht?
Seit Oswald Spengler das Wort vom „Unter-
gang des Abendlandes" unter die Massen ge-
worfen hat, ist es, genau wie er prophezei
hat, nicht mehr aus der Diskussion der Geister
verschwunden. Man hat sehr viel geschrieben,
um Spenglers These zu widerlegen. Nicht immer
hat man ihn überhaupt richtig verstanden.
Spengler hat nicht behauptet, daß das Abend-
land dem Chaos entgegentreibe. Er hat viel-
mehr die These aufgestellt, daß alle Kulturen
Organismen seien und wie diese eine Jugend,
einen Reifezustand, ein Altern und den Tod
erleben müßten. Nach seiner Auffassung wieder,
holen sich in den verschiedensten Kulturkreisen
die gleichen Stadien der Früh-, Mittel- und
Spätkultur und der Auflösung in der gleichen
Weise. Er suchte in diesem Zusammenhang den
Standort der europäischen Gegenwart zu be-
stimmen und kam zu dem Schluß, daß in
den zwei Jahrhunderten zwischen 1800 und
2000 der Umschlag von „Kultur" in „Zivilisation"
erfolge. „Kultur" ist für ihn dann vorhanden,
wenn die Menschen ihre Intensität nach innen
richten. Das Merkmal der „Zivilisation" besteht
für ihn in der Intensität nach außen, das heißt
in dem Streben nach Macht, Reichtum, terri-
torialer Expansion. In Cecil Rhodes hat er den
ersten Gewaltmenschen zu sehen geglaubt, dem
noch eine große Reihe anderer folgen würden.
ntscheidend für die Welt
Hierbei darf bemerkt werden, daß die Grund-
fassung seines Hauptwerkes bereits 1911 fest-
lag, also nicht erst durch den für Deutschland
unglücklichen Ausgang des ersten Weltkrieges
bestimmt wurde. Er meint, daß das Zeitalter
der Tat- und Gewaltmenschen gekommen sei,
daß die Welt in das Zeitalter der großen
Kriege, des Cäsarismus, eintrete, das dio Auf-
lösung alter, traditioneller Gesellschaftsord-
nungen mit sich bringe und weiter hauptsäch-
lich in dem Uberwuchern der wirtschaftlichen
Interessen über die der reinen Politik bestehe.
Spengler hat diesem Prozeß nicht etwa pessi-
mistisch gegenübergestanden, sondern sich aus-
drücklich gegen den Vorwurf des Pessimismus
verwahrt und im Gegenteil das Heraufkommen
eines neuen Menschentyps, des Mannes der
Tat, wie er insbesondere als Industrieführer, \
Techniker oder Organisator in Erscheinung j
tritt, begrüßt. Er glaubt, daß die Entwicklung j
zur Zivilisation hin unausweichlich sei und daß '
der Prozeß etwa im Jahre 2200 für das Abend- i
land ebenso abgeschlossen sein werde, wie er
88 für die griechische Kultur nach der Auf-
saugung durch die römische Zivilisation
gewesen sei.
■ Die Formel, daß dem Abendland der Unter-
gang bestimmt sei, übte und übt noch auf der j
einen Seite eine geradezu magische Wirkung
auf schwache und in der Tat pessimistische
Gemüter aus, auf der anderen Seite reizt sie
zum Widerspruch bei allen denen, die sich noch
etwas zutrauten und an ihre eigene Kraft .
glaubten.
Das Abendland in der Krise
■ Es kann hier nicht der Ort sein, Spengler zu
„widerlegen" oder zu behaupten, daß er recht
habe. Spengler hat eine Geschichtsphilosophie
vorgetragen, deren Richtigkeit sich allein in der
Zukunft erweisen kann. Er selbst hat bestätigt,
daß seine Philosophie ein echter Ausdruck sei-
ner Zeit sei, und es damit offen gelassen, ob
nicht eine andere spätere Generation zu einer
anderen Auffassung komme. Für uns ist es hier
nur wesentlich, festzustellen, daß das Wort
vom „Untergang des Abendlandes" gerade in
jenem Augenblick in die Debatte geworfen
wurde, als die Stunde des moralischen, wirt-
schaftlichen und machtmäßigen Verfalls ge-
kommen schien.
Gibt eis eine „ttelbe Geiahr"?
Von Universilätspro&ssör Dr. Waller Goetz
Der Verfasser der folgenden historischen und zugleich
ungemein aktuellen Betrachtung liest gegenwärtig an der
Universität München. Dr. Walter Goetz war Professor iri
Leipzig, wo er 1933 seines Lehramtes entbunden wurde!
Der hervorragende Geschichtslehrer ist auch Präsident
der Dante-Gesellschaft und Mitglied der historische^
Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschall
ten. Er gilt als besonderer Kenner lernöstlicher Probleme^
* * "72/53
r%ls während des russisch-japanischen Krieges von 1904
bis 1905 der deutsche Kaiser das Wort von der „gelben
Gefahr" aussprach und die Völker Europas aufforderte,
ihre heiligsten Güter zu wahren, schien es, als ob die
Erschließung Chinas und Japans nach der Mitte des 19.
Jahrhunderts nicht nur einen wirtschaftlichen Gewinn,
sondern auch eine drohende Gefahr für die Völker des
Abendlandes bedeutete. Als Wilhelm II. jenen Ausspruch,
tat, dachte er an die Japaner, die damals der russischen
Macht eine schwere Niederlage beigebracht hatten ,und
das führende Volk des östlichen Asiens geworden waren,
In den Worten des deutschen Kaisers lag eine tiefere
Weisheit, als er selber ahnen konnte: er glaubte, daß Jar
pan, das schon 1894/95 China in einem kurzen Kriege sich;
untergeordnet hatte, und seit 1902 durch ein Bündnis
mit England weltpolitisch gesichert war, weitere Erobe-
rungen anstreben und die europäischen Staaten aus
Ostasien verdrängen würde. In Wahrheit handelte es sich
bei diesem Aufstieg Japans um eine rasch vorüber^
gehende Episode der ostasiatiscn'en Verhältnisse. Aber
weltgeschichtlich betrachtet zeigt die Entwicklung von
zwei Jahrtausenden abendländisch-asiatischen Neben-
einanderlebens ein immer sich erneuerndes Drängen
mittelasiatischer Völker nach Westen. Am Beginn der
abendländischen Geschichte aber steht der große Vor»
stoß der Hunnen, die, aus Mittelasien kommend, inv
Jahre 376 die nördlich des Schwarzen Meeres sitzendem
germanischen Stämme vor sich her trieben. Vier Jahr-j
hunderte später sind die Ungarn aus Zentralasien nach'
Europa vorgebrochen und sind ein Jahrhundert lang zur
Geißel Deutschlands, Burgunds und Oberitaliens gewor-
den. 250 Jahre später brachen die Mongolen, die unter
Dschingis Khan in der heutigen Mongolei ein großes
Reich mit eigener Kultur gegründet hatten, nach Westen
(Südwesten) gegen Europa vor. Im 14. Jahrhundert erhobt
sich das Volk der Türken, das über Kleinasien und über
die Dardanellen hinweg den Vorstoß nach Europa auf-
nahm und schon 1529 haben sie zum erstenmal vor Wien
gestanden.
Alle diese Völker, die sich seit Beginn der großen;
Völkerwanderung, also seit der zweiten Hälfte des vier-
ten Jahrhunderts n. Chr., nacheinander gegen den
Westen in Bewegung gesetzt hatten, kamen aus Zentral-
asien, sind miteinander verwandt, und zum größten
Teil Glieder der gelben Rasse, und suchten das Abend-
land und seine Kultur in heftigem Ansturm zu überren-;
nen. Alle stießen tief ins Abendland hinein: die Hunnen
sind erst in der Mitte Frankreichs aufgehalten worden,
die Ungarn im mittleren und südlichen Deutschland, die
Mongolen im westlichen Schlesien, die Türken vor Wien.
Nur eine der das Abendland tödlich bedrohenden Bewe-
gungen geht von einer anderen Stelle Asiens und von
einem semitischen Volke aus: der 7s/am Arabiens nimmt
seinen kriegerischen Weg zuerst nördlich nach Persien
und Kleinasien, dann aber an der Südküste des Mittel-
ländischen Meeres entlang nach Spanien und Südfrank-
reich, wo ihm 732 nicht weit vom Orte jener entscheiden-
den Hunnenschlacht, der Weg durch den Sieg Karl Mar-
tells und seineFranken endgültig versperrt wurde. Immer-
hin blieb Spanien noch für über sieben Jahrhunderte
politisch und kulturell ein Land arabischen Einflusses —
aus dem Willen zu kriegerischer Eroberung war am Süd-
westrande Europas ein wichtiger Ausgangspunkt für eine
im südwestlichen Asien geborene Kultur geworden —
der einzige Fall, daß sich asiatischer Eroberungswille auf
weitem Umweg zu einer positiven Beeinflussung des
Abendlandes entwickelt hatte.
Der türkische Vorstoß und sein Scheitern vor Wien ist
die letzte große Völkerbewegung von Ost nach West ge-
wesen. Der machtpolitische und technische Vorsprung,
den Europa gegenüber Asien in den letzten Jahrhunder-
ten gewonnen hatte, und die Ausdehnung Rußlands im
Zuge einer West-Osl-Bewegung in mittel- und nord-
asiatische Gebiete hinein verhinderte die mongolischen
Massenbewegungen nach Westen hin.
Unter ganz anderen Umständen schien um 1900 die
„gelbe Gefahr" von neuem zu erwachen. Unter dem Ein-
fluß europäischer, von den Japanern übernommener Er-
rungenschaften erhob sich Japan zu einer Großmacht, die
nach der Beherrschung des chinesischen Festlandes und
Mandschurei strebten. Gelang dieser Plan und würden
die mehr als 350 Millionen Chinesen zu Werkzeugen
japanischer Macht, so tat sich für die Staaten Europas
nicht nur der Verlust ihrer wirtschaftlichen Stellung in
Ostasien auf, sondern auch das Entstehen einer japani-
schen Weltmacht, die ihre Arme nicht nur über den
pazifischen Ozean, sondern auch weit nach Westen hin
auszudehnen vermochte. In solchem Sinne war der Aus-
spruch des deutschen Kaisers von der »gelben Gefahr"
und den heiligsten Gütern Europas gemeint.
Aber dieser Ausblick in die Zukunft war in dieser Form
ein Jrrrum. Zwar zerstörte Japan im ersten Weltkrieg als
Verbündeter der Gegner Deutschlands die politische und
wirtschaftliche Stellung, die sich Deutschland in Ostasien
erworben hatte, aber es war damit noch keine Gefähr-
dung für die „heiligsten Güter" der europäischen Na-
tionen gegeben. Und als sich Japan im zweiten Weltkrieg
auf Deutschlands Seite stellte, teilte es nach großen An-
fangserfolgen das Schicksal seiner Verbündeten und ver-
lor für schwer absehbare Zeit jede Möglichkeit zu im-
perialistischer Politik und zur Beherrschung auch nur
Ostasiens. Die Frage einer „gelben Gefahr" verschob sichj
vollends, als die neugegründete mongolische Sowjet- 1
republik sich der russischen Führung unterstellte und mit
russischer Billigung und Förderung China unterwarf und
nach bolschewistischem Muster umgestaltete. Zwischen
die gelbe Gefahr und Europa stellte sich die russische
Gefahr, die freilich ebenfalls als ein Vordringen Asiens
gegen Europa angesehen werden kann, denn Rußland
gehört in der Gegenwart noch weniger als früher zu
Europa — steckt doch in seiner Bevölkerung ein starker
Zusatz asiatischer Elemente: Tataren, Mongolen, Ge-
orgier usw. Und in seiner Kultur steht es trotz allen euro-
päischen Einflüssen dem eigentlichen Leben des Abend-
landes fremd gegenüber. Die bedeutendsten russischen
Schriftsteller der Mitte und der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts haben Europa als ein verlallendes Gebiet
angesehen und die Erneuerung der abendländischen Welt
als künftige Aufgabe des „unverbrauchten" russischen
Volkes angesehen.
Der Bolschewismus glaubt zur Erfüllung dieser Auf-
gabe berufen zu sein, und wir erleben es, wie er nicht nur
gegen Europa, sondern auch nach Osten hin alle Hebel
in Bewegung setzt, seine politischen und wirtschaftlich-
sozialen Ziele zu erreichen. Die Eroberung Südkoreas
sollte nicht nur das gesamte asiatische Festland vom Eis-
meer bis nach Tongkin und Siam in bolschewistische
Hand bringen, sondern auch den Übergang nach Japan
und zu den Inseln des südwestlichen Pazifischen Ozeans
vorbereiten. Es war ein Eingriff in die Einflußsphäre der
Vereinigten Staaten, die durch die Unterstützung der
Südkoreaner ihr Verständnis für die drohenden Gefahren
zeigten. Würde sich aber der russische Bolschewismus,
gestutzt durch die Reserven Rot-Chinas und der Mon-
golei, gegen Westen wenden, so würde er auf dieselben
antibolschewistisdicm Kräfte stoßen.
1946 mit etwas über 12 Millionen Tonnen die größte
jemals erreichte Menge. 1947 sank die Erzeugung
jedoch auf rund 11,80 Millionen Tonnen.
Im Berichtsjahr wurde die Erneuerung des Ma-
schinenparks der Textilindustrie beschlossen. Die
Beschaffung der Maschinen aus dem Ausland IflS
indessen abhängig von der Devisenfrage und den
Lieferfristen der ausländischen Finnen. Die Be-
schäftigung in der Baumwollindustria war zeitweise
durch das Fehlen von Rohbaumwolle und die Kür-
zungen im Stromverbrauch beeinträchtigt. Spanische
Textilerzeugnisse fanden in vielen Ländern guten
Absatz und wurden zu einer wertvollen Devisen-
quelle. \
Die Leistungsfähigkeit der für Massentransporte
ausschlaggebenden Eisenbahn ist beschränkt. Wagen-
material und Lokomotiven genügen den modernen
Anforderungen nicht mehrt seit 1936 sind die An-
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aucn oei aerr anrucation von Kunststotten lur Knöpte
Kämme, Isolatoren und so weiter wird Nylon ver-
wendet.
In der Nylonherstellung liegen die Vereinigten
Staaten mit einer Produktion von täglich, etwa 5C
Tonnen weit an der Spitze. England und Frankreich
machen ebenfalls große Anstrengungen, ihre Nylon-
erzeugung auszubauen. Die englischen Fabriken liefern
täglich bereits 10 bis 15 Tonnen, während Frankreich,
das erst 1945 mit der Nylonherstellung begann, seinen
derzeitigen Monatsdurchschnitt von 20 Tonnen in
diesem Jahr noch zu verdoppeln hofft. Kanada fertigt
monatlich rund 50 Tonnen und Italien 10 bis 15 Tonnen.
Auch in Deutschland hat man' mit der Nylonherstel-
lung schon während des Krieges begonnen. Die Fa-
briken, die heute alle in der Sowjetzone liegen, zeigten
auf der Leipziger Messe ihre neuesten Fabrikate, die
als „Fibron" auf den Mar.kt kamen und im Gewicht
noch leichter sind als Nylon.
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BILDER VOM TAGE. Präsident Harry S. Truman im Gespräch mit Kardinal Francis Spei
der New Yorker „Gesellschaft der Söhne der St. Patrick", vor der er über „Die beste
starkes Amerika" sprach. (DENA.) — CheSkurator John Walker und der stellvertretende
Macgill James, kontrollieren Temperatur und Luftfeuchtigkeit in dem Ausstellungsra
Friedrich- Museum. Die 200 Kunstwerke wurden 1945 in Deutschland von der VS-Armei
weil damals keine geeigneten Räume zur Autbewahrung vorhanden' waren. Die Bilde
Laufe des Sommers wieder in die amerikanische Besetzungszone
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